„Kommen eigentlich viele von uns zu dir?“, fragte er.

„Ein paar. Anfangs hat es mich genervt, aber inzwischen ist mir klar, dass es nicht anders geht. Für euch nicht, und für mich ebenfalls nicht.“

Francis konnte mit diesen kryptischen Worten nichts anfangen. Alistair musste lächeln. „Hier“, sagte er. „Darin ist alles, was ich über die Samenbank gesammelt habe. Ich nenne es die Schublade des unnützen Wissens. In gewisser Weise ist es ein Segen, dass das alles vor dem Internet passiert ist, so gibt es nur ein paar alte Artikel.“

Er ging zu einer Kommode und holte einen Stapel Zeitungen heraus. Francis griff nach dem time Magazine, das zuoberst lag. Auf der Titelseite war Alistair als Kind abgebildet. „Der neue Mensch?“ lautete die Überschrift.

Francis begann sofort zu lesen. Der siebenjährige Alistair Haley war ein Medienstar, er hatte gerade ein Theaterstück über eine Hundefamilie geschrieben, spielte auf hohem Niveau Schach und diskutierte mit seinem Mentor Warren P. Monroe über komplizierte Probleme der Mathematik und Physik.

„Wie war denn dieser Monroe so?“, fragte Francis. „Wahnsinnig?“

„Nicht unbedingt. Er war allerdings besessen von der Idee, Genies in die Welt zu setzen. Frag mich nicht, wieso.

Er meinte, bei der Züchtung einer Pflanze nehme man auch nicht die schwächsten Samen, sondern die stärksten.“ Alistair ging zum cd-Player und legte Musik auf. „Alles Blödsinn, wenn du mich fragst. Eugenikprogramme gab es ja schon früher, und man hat Monroe damals auch kritisiert und Dr. Frankenstein genannt oder den Hitler der Gene. Fair enough. Der Punkt ist nur, dass er einfach der Erste war, der diese Idee hatte. Wäre er nicht gewesen, hätte es eben jemand anders gemacht.“ Francis nickte verhalten.

Alistair schien nun völlig in seinem Element. Den Joint in der Hand, redete er von Wissenschaftlern wie Robert Edwards und Craig Venter und meinte, dass alle immer so weit gehen würden wie möglich. „Die Leute vergessen nur, dass jede Tür, die einmal geöffnet wurde, nie mehr geschlossen werden kann“, sagte er. „Was machbar ist, wird auch getan, egal, wie gefährlich es ist. Siehe die Atombombe.“

„Und wie hast du dich mit Monroe verstanden?“, fragte Francis, um wieder aufs Thema zurückzukommen.

„Gut. Wir sind jede Woche essen gegangen. Er hat mich mit seinem weißen Studebaker Cabrio abgeholt, dann haben wir stundenlang diskutiert. Ich habe das verkörpert, wonach er strebte.“

„Dann hat er dich in all die Talkshows gezerrt?“

Alistair bleckte die Zähne. „Nein, das war Mom.“

Er erzählte, wie er aufgewachsen war. Mit zwei hatte er bereits perfekt gesprochen, im Alter von vier König Lear auswendig gekonnt. Und als er sieben war, hatte man in einem Test herausgefunden, dass er einen iq von 189 hatte.

„Ab da ging es los. Monroe meinte, jetzt beginne die nächste Stufe der Menschheit und der Evolution. Für ihn war ich ein Prototyp, das Beste aus seiner Züchtung.“

„Du musst ihn hassen.“

„Wenn ich die Art und Weise meiner Zeugung in Frage stellen würde, müsste ich mich selbst in Frage stellen. Wir können beide froh sein, dass es uns überhaupt gibt. In der Natur wären wir nicht vorgekommen. Also fair enougb“, sagte er wieder.

„Was ist eigentlich mit deiner Mom?“

Alistair fuhr sich durch den Bart und schien sich an etwas halb Vergessenes, Schmerzhaftes zu erinnern. „Weiß nicht so genau“, sagte er schließlich. „Wir haben nicht mehr viel Kontakt. Außerdem lebt sie weit weg.“

„An der Ostküste?“

„In Indien.“ Er warf Francis einen langen Blick zu. „Und deine Mom?“

„Sie ist gerade in der Klinik. Ich muss sie bald mal anrufen. Aber wir haben noch sehr viel Kontakt, ich wohne bei ihr.“

Er machte eine Pause. „Ich muss dich das natürlich fragen: Weißt du, wer dein wirklicher Vater ist? Hast du ihn jemals sehen wollen?“

Alistairs Gesicht blieb ausdruckslos, aber es war Francis, als ob sich dahinter eine tiefe Bitterkeit und Leere verbarg. „Nein. Mich interessiert nicht, wer mein Vater ist. Ich bedeute ihm ja schließlich auch nichts. Ich war in allen Zeitungen und Fernsehsendungen; wenn er an mir interessiert gewesen wäre, hätte er sich gemeldet. Damals, als Monroe mir sagte, dass Doble nicht mein Vater sei, habe ich das einzige Mal darüber nachgedacht, wer er wohl sein könnte.

Aber das ging vorbei.“ Alistair legte sich auf den Boden und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

Francis ging im Zimmer umher. Er versuchte nicht mehr an Doble zu denken und schaute sich die unzähligen Bücher an, deren Titel ihm nichts sagten. Manche waren Romane, andere schienen Fachliteratur aus der Mathematik und Physik zu sein. Dann entdeckte er den Bücherstapel, der neben der Matratze stand. „Ach was ... So was liest du?“

Auf einmal bekam Alistairs Gesicht Farbe. „Ich liebe Herr der Ringe“, sagte er, noch immer auf dem Boden liegend. „Ich habe die Bücher bestimmt zwanzigmal gelesen. Am liebsten mag ich Gandalf!“

Als Francis seinen aufgeregten Blick sah, musste er lachen. „Was ist eigentlich da drin?“, fragte er und deutete auf die beiden großen Pakete in der Ecke.

„Ein Bett und ein Regal. Hab ich schon vor Ewigkeiten bestellt, ich bin aber noch nicht dazu gekommen, alles aufzubauen.“

Francis bot an, ihm zu helfen. Sie machten sich an die Arbeit, doch Alistair war handwerklich alles andere als begabt. Einmal hämmerte er aus Versehen zwei falsche Teile zusammen und brach dabei in bekifftes Gelächter aus. Er steckte Francis damit an, und beide lachten, bis sie sich vor Erschöpfung auf den Boden setzen mussten. Francis konnte sich allerdings selbst jetzt auf seine geschickten Hände verlassen. Als er alles fertiggeschraubt und aufgerichtet hatte, betrachtete er stolz sein Werk.

Alistair war in die Küche gegangen und kam mit zwei Dosen Bier wieder. Eine warf er Francis zu. „Hier, Heimwerker-King, hast du dir verdient.“

Sie stießen an, dann räumte Alistair sein Regal ein. Er ging hoch auf den Speicher und schleppte mehrere Kisten mit Vinylplatten herunter. „Sie sind von meinem Onkel, ich hab mir immer vorgenommen, sie mal durchzusehen und bei mir ins Regal zu stellen. Ich glaube, ich könnte so ein cooler Vinyltyp werden, was meinst du?“ Er grinste.

Francis war sich nicht sicher, ob er diese Art von Humor verstand, doch er nickte ihm freundlich zu. Dann las er wieder in den Zeitungsartikeln. Die meisten handelten von Alistair, sein ganzes Leben war festgehalten worden. Anfangs hatte man in ihm einen angehenden Mathematik-Nobelpreisträger gesehen, in den Berichten nannte man ihn Designerkind und Baby Einstein. Am besten gefiel Francis die Beschreibung von Alistairs Zeugung. Seine Mutter war ein Hippie, sie hatte vor dem Senat gegen den Vietnamkrieg demonstriert, Drogen ausprobiert, war in Woodstock dabei gewesen und nach Indien gereist. Doch in all den Jahren hatte sie nie den Mann zum Heiraten getroffen. Als eine der Ersten hatte sie sich auf Monroes Anzeige beworben. Als Monate später die Paketsendung mit der stickstoffgefüllten Sperma-Ampulle eintraf, ließ Paula Haley einen Gynäkologen zu sich nach Hause kommen und die Zeugung mit einer Super-8-Kamera filmen.

Dass das Sperma auch per Post verschickt wurde, störte Francis. Er stellte sich eine alleinerziehende Mutter vor, bei der die Ampulle mit einem möglichen Geniekind - gefroren für die Ewigkeit - noch irgendwo in einem Regal zwischen abgelaufenen Marmeladen- und Gurkengläsern vor sich hin gammelte, bis sie beschloss, die Sache durchzuziehen.

Zuletzt stieß er auf einen Artikel, der von den Kindern aus der Samenbank der Genies handelte. Seelen aus dem Eis. Vor ein paar Jahren hatte eine Journalistin einige der inzwischen erwachsenen Geniekinder aufgesucht, um zu sehen, was aus ihnen geworden war. Francis las so gespannt, dass er mit den Zähnen knirschte. Am interessantesten war die Geschichte eines Mädchens namens Laura. Ihre Mutter hatte ebenfalls den echten Namen ihres Spendervaters ausfindig gemacht. Allerdings hatte sie sich dabei wahrscheinlich geschickter angestellt, denn die Sache war niemals aufgeflogen.

 

Als Laura sechzehn ist, kommt ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben. Ihr Stiefvater ist ein cholerischer Trinker. Er weiß von der Samenbank der Genies und kann nicht damit umgehen, dass seine Frau damals von einem Mann schwanger wurde, der offensichtlich schlauer, gesünder und attraktiver ist als er. Laura leidet unter seinen Gewaltausbrüchen und sehnt sich zunehmend nach ihrem leiblichen Vater, Donor Michael.

Nach der Schließung der Samenbank macht sie sich auf die Suche nach ihm. Da er ein anerkannter Wissenschaftler ist, der bereits mehrfach für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde, hat Laura keine große Mühe, ihn ausfindig zu machen. Sie ruft ihn zweimal an, doch er legt jedes Mal sofort wieder auf.

„Am Ende hat er mir sogar mit der Polizei gedroht. Er schrie: Sie sind nicht mein Kind.“ Laura sieht zu Boden. Sie ist nun Anfang zwanzig, eine hübsche Frau, die gern lacht und trotzdem ernsthaft wirkt. „Und da wurde mir klar, dass er vermutlich eine Familie hat, die nicht weiß, dass er seinen Samen gespendet hat“, erklärt sie. „Er hatte sicher panische Angst davor, dass ich in diese Idylle einbrechen könnte. Dennoch musste ich ihn sehen. Ich hatte das Gefühl, da wäre sonst immer ein Loch in meinem Leben.“

Und so fährt Laura mit dem Auto in zwei Tagen bis nach Oregon. Dort, in einer Seitenstraße am Stadtrand von Portland, sieht sie zum ersten Mal ihren Vater. Ehrfürchtig beobachtet sie, wie er zur Arbeit geht und Stunden später zurückkommt. Abends steigt er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in den Wagen, Laura folgt ihnen kurz entschlossen. Sie fahren zu einem Restaurant in die Innenstadt.

„Ich war unglaublich nervös. Sie saßen zu viert an einem Tisch in der Ecke, ich habe mich an den Tisch daneben gesetzt. Ich kam mir vor wie in einem Detektivfilm. Anfangs habe ich mich nicht getraut, zu ihnen rüberzusehen. Mein Vater schien ein lustiger, liebevoller Mann zu sein, ich sah, wie er seine Frau küsste und mit seinen Kindern herumalberte. Meinen Halbgeschwistern, wenn man so will. Die ältere Tochter sah mir tatsächlich zum Verwechseln ähnlich, die gleiche Nase, der gleiche Mund. Ich hörte, wie sie über einen Kinofilm sprach, den ich auch gesehen hatte. Es war ein surrealer Moment. Sie wirkten alle so glücklich da drüben. Je länger ich neben dieser Familie saß, desto größer wurde mein Wunsch, zu ihnen zu gehen und mich mit ihnen zu unterhalten. Aber ich konnte einfach nicht, ich gehörte nicht dazu. Schließlich zahlten sie. Ich sah ihnen nach, war noch völlig überwältigt von diesem Abend. Da kam plötzlich mein Vater zurück, er hatte seine Brille liegenlassen. Als er sie aufsetzte, blickte er direkt zu mir. Ich konnte kaum atmen, war wie paralysiert. Ich dachte, er muss doch erkennen, wie ähnlich ich seiner Tochter sehe, er muss doch begreifen, dass da sein Kind vor ihm sitzt. Aber er sah nur kurz her und ging dann wieder raus.“

 

Der Artikel endete damit, dass Laura nach dieser Begegnung ihr Leben geändert habe. Sie sei von Minneapolis nach Oregon gezogen, um ihrer Schattenfamilie näher zu sein. Sie habe ihrem leiblichen Vater einen Brief geschrieben und warte jetzt voller Hoffnung auf eine Antwort von ihm.

„Er hat sich nie bei ihr gemeldet“, sagte Alistair.

Francis schreckte hoch. Er hatte nicht bemerkt, dass er beim Lesen beobachtet wurde. „Kennst du diese Laura?“, fragte er.

„Ja, ganz gut sogar. Sie war zweimal bei mir.“

„Und wie ist sie so?“

Alistair nahm den Basketball, der auf dem Boden lag, und dribbelte damit herum. „Liebenswürdig“, sagte er. „Ein wirklich nettes Mädchen, aber die Sache mit ihrem Vater hat sie verändert. Laura ist dadurch irgendwie ... gebrochen worden. Sie wird bis an ihr Lebensende darauf hoffen, dass ihr richtiger Vater sich meldet, aber er wird es niemals tun. Manchmal glaube ich, dass sie daran zugrunde gehen wird.“

Alistair warf ihm den Basketball zu.

„Kann man da nichts machen?“ Francis warf den Ball wieder zurück.

„Nein, wie denn? Ihr Leben ist einfach schlecht gelaufen, von Anfang an. Sie hat sich zu sehr an diese Sache mit ihrem Vater geklammert. Wirklich schade, denn ich mag sie sehr. Sie schreibt mir manchmal Mails, immer mit so komischen Links zu spielenden Katzen oder Songs, die sie gerade gern hört.“

Alistair dribbelte noch ein paarmal mit dem Basketball durchs Zimmer, dann setzte er sich aufs Bett und klappte einen Laptop auf.

Francis dagegen konnte sich einige Momente lang nicht rühren. In dem Artikel stand, dass man Samenbankkinder auch Frozen Angels nannte. Er starrte auf diese beiden Wörter, bis sie vor seinen Augen verschwammen und er das Gefühl hatte, sich hinlegen zu müssen. Da klingelte es an der Tür.

Alistair, der eine Schachpartie gegen einen Großmeister aus Tschechien spielte und nebenher im Netz surfte, stand auf und öffnete. „Scheint für dich zu sein“, rief er Francis vom Gang aus zu.

 

3

 

Die erste Begegnung zwischen Alistair Haley und Grover Chedwick brachte Francis zum Lachen. Sie hatten beinahe das gleiche Brillenmodell, waren gleich schlecht angezogen und begannen bizarrerweise sofort eine Art kurze Abfrage über mathematische Probleme. Wie zwei Hunde, die sich beschnüffelten. Francis hörte nur noch Wortfetzen wie „Collatz-Problem“ oder „Hasse-Algorithmus“. Er hatte dabei allerdings den Eindruck, als könne sich Grover nur mit Mühe im Spiel halten, während Alistair nebenher noch seine Schachpartie weiterführte und, wie es aussah, gewann.

Anne-May machte mit Grovers Kamera ein Foto von den beiden, wie sie diskutierten; Grover konzentriert, Alistair lässig rauchend, mit dem Laptop auf dem Schoß. In vierzig Jahren, wenn beide den Nobelpreis gewonnen hätten, wäre es vermutlich mal sehr viel wert.

„Einen interessanten Freund habt ihr da“, sagte Alistair in die Runde, als sie ihr Gespräch endlich unterbrachen. Er wandte sich wieder Grover zu. „Wo studierst du?“

„Ich hab noch nicht angefangen. Aber wahrscheinlich werde ich in Yale studieren.“

„Ach, ist ganz nett da, die haben mir ein Stipendium angeboten.“

„Und wann warst du dort, Alistair?“

„Ich war nicht da.“

„Wo dann, in Harvard?“

„Ich hab auf dem Mills College studiert!“

„Nie gehört“, sagte Grover.

„Das ist in Oakland.“

Es entstand eine Pause.

„Aber wieso warst du denn auf einem völlig unbekannten College, wenn du doch überall hättest studieren können?“, fragte Anne-May.

„Weiß nicht, ich hatte vermutlich einfach keinen Ehrgeiz ... Ja, das war's, glaube ich.“ Alistair lächelte. Zwar bemerkte er die Blicke der anderen, aber es schien ihm zu gefallen, der spleenige Außenseiter zu sein. Mit der Zigarette im Mund griff er nach seinem Handy. „Hat noch jemand Lust auf Chinesisch?“

Sie ließen sich etwas vom Lieferdienst bringen und aßen zu Mittag. Im Hintergrund lief ein Album der Doors. Grover hatte soeben schockiert zur Kenntnis genommen, dass Alistair Unreal Tournament nicht kannte, und empfahl es ihm eindringlich, Anne-May schaute sich währenddessen die Bücher und Instrumente an. Als sie einen Joint angeboten bekam, lehnte sie ab. „Danke, das hab ich hinter mir.“

Francis saß abseits. Er musste daran denken, dass er und die anderen Kinder am selben Ort produziert und in Kältetanks aufbewahrt worden waren, nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Womöglich hatte er unzählige Halbgeschwister, von denen er nichts wusste. Und bestimmt hatten sich auch Alistair und diese Laura aus dem Artikel tausendmal eingeredet, es sei ihnen egal, wer sie waren oder woher sie kamen, und dann hatten sie doch nächtelang darüber nachgedacht.

Er schaute zu Alistair, der gerade Bong rauchte und vor sich hin sagte: „Objektiv gesehen ist der Tod das Beste, was den Menschen passieren konnte. Er zwingt sie, sich dem Leben zu stellen, jede Sekunde davon zu genießen und sich zu verwirklichen. Er ist das einzig richtige Ende, notwendig und ein starker Antrieb.“ Er machte eine Pause. „Subjektiv gesehen ist der Tod natürlich scheiße.“

 

Am Nachmittag meinte Alistair, er müsse zur Arbeit. Er machte keinerlei Anstalten, seinen Job zu verraten, also fragte auch niemand nach. Grover und Anne-May verabschiedeten sich von ihm und gaben ihm ihre Mailadressen. Während sie schon vorgingen, blieb Francis noch einen Moment zurück.

„Danke für das Bett und das Regal“, sagte Alistair zu ihm.

„Gern geschehen... Danke für den Namen meines Vaters.“

„Gern geschehen.“ Alistair drückte ihm einen Zettel in die Hand, auf dem eine Adresse in Carpinteria notiert war. „Dort wohnt Dr. von Waidenfels“, sagte er. „Ich weiß nicht, ob du ihn sehen willst. Er war der Eugeniker bei der Samenbank der Genies, er hat fast alles allein gemacht. Inzwischen ist er uralt, und ich habe gehört, er soll verrückt geworden sein. Aber vielleicht hat er noch die Akten von damals, mitsamt den Adressen und Daten der Spender. Außerdem freut sich seine Frau sicher über Besuch, sie ist ziemlich einsam. Ich würde es versuchen.“

Francis ließ den Zettel in seiner Hosentasche verschwinden. „Da ist nur eins, was ich nicht verstehe“, fing er an. Was er sagen wollte, machte ihn verlegen. „Es ist... Wieso bin ich so schlecht in allem? Bei meinen Genen müsste ich doch viel besser sein!“

„Vielleicht. Aber schon mal daran gedacht, dass du dein Potential erst entfalten kannst, wenn du weißt, wer du bist?“

„Fair enough.“ Francis grinste. Sie gaben sich die Hand.

„Ich hoffe jedenfalls, das Treffen mit deinem Vater läuft gut“, sagte Alistair. „Ich musste bei Laura mit ansehen, was passieren kann, wenn so was schiefgeht. Sie hatte einfach zu hohe Erwartungen, sie...“ Er brach ab. „Ich hoffe wirklich, dass bei dir alles besser läuft.“

„Danke!“ Francis wollte sich schon wegdrehen, blieb aber in der Tür stehen. „Sag mal, was hast du eigentlich auf dem Mills studiert?“

Alistair zuckte mit den Schultern. „Religionswissenschaften.“

 

4

 

Nach dem Besuch konnte Francis an nichts anderes denken als an den Namen seines Vaters. Doble. Inzwischen war er sich sicher, dass Alistair recht hatte. Er sah einfach nicht aus wie jemand, der sich irrte. Auch die anderen waren der Meinung, dass es plausibel klang. Vorhin hatten sie im Internet nach Doble gesucht, doch es hatte zu viele unterschiedliche Einträge gegeben. Zudem bestand ja auch die Möglichkeit, dass Francis' Vater ein zurückgezogen lebender Forscher war, zu dem es keine Treffer im Netz gab. Auf jeden Fall benötigten sie seinen Vornamen und mehr Informationen.

Gemeinsam besichtigten sie die Innenstadt. Anne-May meinte, sie brauchte unbedingt neue Klamotten für den Besuch bei ihrer Großmutter. Bei Macy's kaufte sie sich eine Bluse und hellblaue Jeans. Sie zog sich um und nahm auch ihre Piercings raus. Francis fand, dass sie besser aussah als je zuvor. Wie ein liebes, unglaublich hübsches Mädchen von nebenan. Die Sorte Mädchen, die normalerweise eben nie nebenan wohnen.

Am späten Nachmittag kamen sie runter zum Strand. Sie zogen ihre Schuhe aus und gingen barfuß am Ufer entlang, jeder für sich allein.

Schließlich hatte Francis das Gefühl, nach Tagen des Reisens innehalten zu müssen. Er grub seine Zehen in den feuchten Sand, atmete tief durch und streckte die Arme aus. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, eine leichte Brise kam auf. Er ahnte, dass das ein glücklicher Moment in seinem Leben war, und blickte in die Weite des Pazifischen Ozeans.

 

Während Grover Fotos machte, saßen Anne-May und Francis am Wasser. Er fragte sie, ob sie nicht befürchte, dass ihre Großmutter sie bei ihren Eltern verpfeifen würde. Anne-May schüttelte den Kopf. „Meine Nana ist spitze, die würde so was niemals tun. Sie hat schon früher zu mir gehalten, wenn ich Probleme mit meinen Eltern hatte.“

Eine Weile beobachteten sie die Wellen, die Möwen, die an ihnen vorbeiflogen, oder die Jugendlichen, die am Strand Beachvolleyball spielten.

Dann nahm Anne-May Sand und ließ ihn auf seinen Arm rieseln. „Denkst du an deinen Dad?“, fragte sie. „Hast du Angst?“

Während Francis überlegte, rückte sie an ihn heran und war jetzt so dicht neben ihm, dass er Mühe hatte, sie nicht zu berühren. Ihm fiel wieder auf, wie weiß ihre Haut war. Er betrachtete seinen gebräunten Unterarm und hielt ihn zum Vergleich gegen Anne-Mays.

„Es geht“, sagte er schließlich. „Du bist ja dabei und passt auf mich auf.“

Anne-May lächelte. „Als du das erste Mal neben mir im Fernsehraum in der Klinik gesessen bist und dich entschuldigt hast, dachte ich: Der ist eigentlich ganz süß.“

„Wirklich? Obwohl du die ganze Zeit geschwiegen hast?“

„Ja, du bist groß, und mir gefiel auch deine tiefe Stimme. Und manchmal hast du auch so eine witzige Art. Ich mag nämlich Männer, die Humor haben.“

„Und ich dachte schon, du bist nur hinter meinem Geld her.“

Sie lachte. Dann sprang sie auf und lief ins Wasser. Francis blieb zurück und strich mit der Hand über den Abdruck, den sie im Sand hinterlassen hatte.

 

Am Abend besuchte Anne-May ihre Großmutter. Grover und Francis hatten keine Lust gehabt mitzukommen und setzten sich in eine Bar. Auf den Bildschirmen an der Wand liefen Baseballspiele. Francis erzählte, dass Anne-May in ihr Tagebuch Comics mit sprechenden Mäusen gemalt habe, die alle seltsame Namen hätten. Grover meinte, er habe die Zeichnungen auch gesehen, und sie fingen an, über Anne-Mays sprechende Mäuse Witze zu reißen.

Danach stellten sie sich die schlimmstmöglichen Szenarien mit Francis' Vater vor. Etwa, dass Dr. Doble potthässlich, bucklig und nur eins fünfzig groß war und auf seinem Anwesen Pornos mit Tieren drehte. An diesem Abend verstanden sie sich endlich wieder gut.

Dann aber sprach Grover von seinem Studium in Yale und dass er später eine Familie und ein Haus haben wolle, und wieder musste Francis begreifen, dass er in seiner Zukunft nicht vorgesehen war.

Als Anne-May zurückkam, nahmen sie sich zwei Pensionszimmer in der Innenstadt. Grover ging früh schlafen,

Anne-May und Francis unterhielten sich noch bis Mitternacht in der Lobby. Sie erzählte von ihrem kleinen Bruder und dass Jerome Pilot werden wollte.

„Wir haben uns damals leider oft gestritten. Er durfte immer viel mehr machen als ich in seinem Alter, das hat mich total geärgert.“

Francis wollte sie wieder fragen, wie ihr Bruder gestorben war, doch da hatte Anne-May bereits das Thema gewechselt. Sie schwärmte vom jungen Marlon Brando oder sprach davon, dass ihre Eltern sie früher zum Fechtunterricht und zu Ferienkursen gezwungen hätten und wie sehr sie es hasse, so unter ihrer Fuchtel zu stehen. Francis lehnte sich mit verschränkten Armen zurück und nickte verständnisvoll, dabei spannte er jedoch seinen Bizeps an und schaute cool, um möglichst Marlon-Brando-mäßig rüberzukommen.

Anne-May schlug vor, noch spazieren zu gehen. In der Stadt war wenig los. Sie schlenderten die hügeligen Straßen entlang, die Nacht war klar, und Anne-May hakte sich bei ihm ein. Francis liebte das. Sie redeten über alles Mögliche, und er gestand ihr sogar, dass er von ihren sprechenden Mäusen wusste.

Anne-May reagierte überrascht. „Woher?“

„Ich hab gesehen, wie du sie in dein Tagebuch gemalt hast. Was waren das denn für seltsame Namen? Sir Aldous Pettigrew? Miss Ella Knoxley?“

„Sie heißt Elaine Knoxley“, sagte sie. „Es ist nur ein alberner Comic. Ich hab ihn als kleines Mädchen mal angefangen, als ich total begeistert von England war. Damals habe ich mir diese Figuren ausgedacht, und manchmal male ich die Mäuse immer noch, wenn mir langweilig ist. Da ist wirklich nichts dabei, okay?“ Anne-May warf ihm einen strafenden Blick zu. „Und hör auf, so zu grinsen.“

 

Auf dem Rückweg waren sie ausgelassen, mal rempelte er Anne-May an und sie ihn, manchmal lehnte sie sich aber auch bloß an seine Schulter. Wenn sie dann redete und gestikulierte, sah Francis runter auf ihren Kopf und genoss es, dass sie da war.

„Meine Nana ist arm dran“, meinte sie. „Du hättest sehen sollen, wie sehr sie sich über meinen Besuch gefreut hat. Sie hat wirklich niemanden mehr, seit mein Grandpa gestorben ist... Und ich mag diese Stadt, ich würde am liebsten hier wohnen, dann könnte ich sie auch oft besuchen. So was wie das hier wäre schön.“

Sie gelangten zu einem tatsächlich sehr hübschen Haus in einer netten Gegend. Es stand zum Verkauf, Francis schätzte den Preis auf sechs- oder siebenhunderttausend Dollar. Er überlegte, wie es wohl wäre, in diesem Haus aufgewachsen zu sein und ein anderes Leben zu führen, ohne Geldsorgen, ohne die Krankheit seiner Mutter, ohne Probleme. Ein Leben, in dem er wohl bald an einem College studieren würde und danach einfach einen normalen Job hätte, ein paar Freunde und vielleicht eine Frau wie Anne-May.

Francis konnte seinen Blick nicht von dem Haus abwenden. „Wenn ich in Vegas gewonnen hätte, würde ich es jetzt kaufen und mit meiner Mom sofort hierherziehen“, sagte er.

„Ich würde mitkommen.“

„Wer sagt, dass du auch da wohnen dürftest?“

„Ich“, sagte Anne-May mit einem Lächeln. „Ich meine das übrigens ernst. Ich würde wirklich mitkommen.“

„Und ich meine es auch ernst. Ich würde es wirklich kaufen.“

„Ach, Dean“, sagte sie nur und ließ ihn stehen. „Red keinen Unsinn.“

Als sie zurück in die Pension kamen, war die Nacht halb vorbei. Sie standen im Flur, und es stellte sich die Frage, wie es jetzt weitergehen würde. Links ging es zu seinem und Grovers Zimmer, rechts zu ihrem.

„Na, was ist?“, fragte er. „Zu dir oder zu mir?“

Francis hatte es eigentlich witzig gemeint, aber jetzt konnte er kaum noch atmen, so sehr war er auf ihre Reaktion gespannt.

„Zu mir“, sagte sie, und das Schönste war, dass sie es ohne Ironie sagte und ihn einfach bei der Hand nahm.

Es war halb dunkel, nur der Mond leuchtete ins Zimmer, als Anne-May sich auszog. Francis beobachtete sie nicht verstohlen, sondern direkt. Sie bemerkte es, doch es schien sie nicht zu stören.

Dann verschwand sie im Bad. Es dauerte lange, deshalb stellte er sich ans Fenster und sah auf die Straße. Ein alter Mann mit einem bellenden Hund bog um die Ecke, in der Ferne sah er die roten und weißen Lichter der Autos und den Strand. In diesem Moment fühlte er wieder, dass diese Reise ein schlimmes Ende nehmen würde.

Als Anne-May nackt ins Zimmer kam, hielt sie eine Packung Kondome in der Hand.

„Was schaust du?“, fragte sie.

Francis drehte sich um und ging auf sie zu. „Nichts“, sagte er. „Da draußen war nur ...“

Sie fasste ihn am Arm, und er spürte ihre kalten Lippen auf seinen.

 

Alles lief viel bewusster und langsamer ab als beim ersten Mal. Anne-May zog sein Shirt aus und streifte mit ihrem Mund seine Schulter. Im Zimmer roch es nach den staubigen Polstermöbeln und ihrem Parfüm, sie küsste ihn, im Dunkeln sah er ihre Zähne schimmern. Francis warf seine Boxershorts auf den Boden und legte sich aufs Bett. Anne-Mays Finger fuhren über seinen Bauch. Es kitzelte ihn, während sie weiter runterwanderten und nach seinem Schwanz griffen. Sie nahm ihn in die Hand und ließ ihre Zunge langsam über die Spitze gleiten. Er atmete unruhig, sagte ihren Namen, wusste nicht, wohin mit seinen Händen, und hielt sie in die Luft.

Schließlich richtete er sich auf und drehte Anne-May auf den Rücken. Sie küssten sich wieder, dann nahm sie seinen Kopf und führte ihn zwischen ihre Beine. Er schloss die Augen und ließ sich treiben, ihre Hände griffen nach seinem Haar.

Nach einer Weile hörte er, dass sie etwas sagte, aber er verstand nicht, was. Hastig versuchte er sich ein Kondom überzurollen. Aber erst bekam er die Verpackung nicht auf, danach gelang es ihm nicht, es sich überzuziehen. Schließlich schaute er so hilflos zu Anne-May, dass sie anfing zu lachen. Mit ihren Zähnen riss sie die Verpackung eines weiteren Kondoms auseinander und streifte es ihm über, danach legte sie sich wieder auf den Rücken. Sie hatte noch immer ihr typisches, überlegenes Lächeln im Gesicht, selbst als er in sie eindrang. Doch je länger und schneller er sich in ihr bewegte, desto ernster wurde sie, bis sie anfing, unkontrolliert zu atmen. Wieder flackerten ihre Augen unruhig hin und her, bis sie sich endlich schlossen.

 

Sie schliefen mehrmals miteinander. Francis wollte immer wieder, Anne-May wehrte nach dem zweiten Mal erst ab, ließ sich aber jedes Mal überreden. Als er schließlich erneut angekrochen kam, lachte sie. „Gott, Dean, wirst du denn nie müde?“ Sie nahm ihn mit ihren Beinen in eine Schere.

„Ich weiß, was du denkst“, sagte er. „Du stellst dir gerade vor, wies mit Grover wäre.“

Ihre Beine umklammerten ihn noch fester, so dass es beinahe schon weh tat. „Das muss ich mir nicht vorstellen. Ich weiß, dass es großartig wäre.“

Er wollte sie küssen, doch sie wich zurück und sah ihn ernst an.

Dann lächelte sie, und sie schliefen ein letztes Mal in dieser Nacht miteinander.

Anschließend lagen sie im Bett, bis es draußen hell wurde. Sie sprachen kein Wort. Francis fuhr mit den Fingern über die Narben an Anne-Mays Handgelenken. Sie beobachtete ihn und schien dabei nachzudenken. Francis fiel wieder ein, dass Frauen angeblich nur die Geheimnisse der Männer aufdecken wollten und dass Anne-May nun alles von ihm wusste, er aber kaum etwas von ihr. Doch er machte sich deshalb keine Sorgen. Sein Nachbar Toby hatte zwar gemeint, wenn eine Frau einen lange anschaue und dabei nachdenke, bedeute das nichts Gutes, aber da musste er sich geirrt haben. Anne-May und er waren sich so unglaublich nahe, er hatte sich noch nie so sehr als Mann gefühlt wie in diesem Moment. Es war plötzlich alles ganz einfach.

„Ich liebe dich“, sagte er.

Sie antwortete nicht.

 

Los Angeles

 

1

 

Anne-May war verschwunden. Beim Aufwachen hatte sie nicht mehr bei Francis im Bett gelegen. Erst hatte er gedacht, sie sei nur kurz weggegangen, um Frühstück zu holen, doch sie war auch in den folgenden Stunden nicht wiedergekommen. Grover und er saßen in der Lobby und spekulierten darüber, was wohl los war und ob ihre Eltern daran schuld waren. Vielleicht hatte ihre Großmutter ja doch bei ihr zu Hause angerufen. Insgeheim befürchtete Francis aber, dass es etwas mit ihm zu tun hatte.

Es vergingen zwei weitere Stunden, und langsam bekamen sie Angst, dass Anne-May sich etwas angetan hatte. Sie wurden immer nervöser und überlegten schon, zur Polizei zu gehen. Francis machte sich Vorwürfe, dass er sie aus der Klinik geholt und auf die Reise mitgenommen hatte.

Am späten Nachmittag tauchte Anne-May jedoch unversehens wieder auf. Sie trug ihre Sonnenbrille und kam mit schnellen Schritten ins Foyer. Als sie die anderen sah, nahm sie die Ray-Ban ab.

„Wo warst du?“, rief Francis und lief ihr entgegen. Er wollte sie umarmen, doch sie wich ihm aus. Ihre Augen wirkten plötzlich feindselig, abweisend.

„Lasst uns aufbrechen“, sagte sie nur, ohne ihn anzusehen.

Sie fuhren an der zerklüfteten Felsküste entlang in Richtung Süden. Ein Radiosender spielte mexikanische Volksmusik. Die Luft roch nach Salz und Algen, die tiefstehende Sonne tauchte die Serpentinen in mildes Licht, rechts glitzerte der Ozean. Doch Francis hatte keinen Blick dafür und dachte nur an Anne-May. Einmal wollte er ihre Hand nehmen, aber sie zog sie sofort weg.

„Hab ich dir was getan?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf, und wenn er mit ihr reden wollte, meinte sie nur: „Da ist nichts“, oder: „Ich bin einfach müde.“

An einer einsamen Bucht hielten sie an, um zu baden. Francis hatte nicht schnell genug in den Westen kommen können, doch jetzt war er insgeheim froh über jede Pause auf dem Weg zu seinem Vater. Was, wenn er ihm nicht genügte, wenn er abgelehnt wurde? Am liebsten wäre er einfach nur sein ganzes Leben lang unterwegs zu ihm gewesen, ohne jemals anzukommen.

Sie stürzten sich nackt in den Pazifik, aber es war kalt, und Grover und er rannten sofort zum Strand zurück. Nur Anne-May blieb noch im Wasser. Francis beobachtete, wie sie in die eisigen Wellen tauchte, wieder auftauchte, sich die nassen Haare aus dem Gesicht strich. Er betrachtete ihren nackten, im Sonnenlicht glänzenden Körper. Einmal sah sie kurz zu ihnen. Dann wendete sie sich wieder ab und schwamm in die andere Richtung.

„Ich verliere sie“, sagte Francis.

Grover antwortete nicht.

„Sie hat all meine Geheimnisse“, fing Francis noch mal an. „Und jetzt hab ich sie verloren.“

Für die Übernachtung suchten sie ein Motel in Strandnähe. Francis lag noch lange wach, aus dem Zimmer nebenan hörte er Musik und Gelächter. Es waren sicher die braungebrannten Surfer, die er schon beim Einchecken gesehen hatte. Sie waren einige Jahre älter als er und hatten die ganze Zeit Anne-May angestarrt. Bei ihrem Lärm konnte er einfach nicht einschlafen, die Musik war zu laut und die Wände zu dünn, sogar das Klirren der Bierflaschen konnte er hören. Ihr Partylärm war Sirenengesang, sie wollten damit Anne-May zu sich locken. Doch die lag in ihrem Bett und schlief. Wenigstens das. Francis schloss wieder die Augen, und endlich nickte er ein.

Und dann, es war vielleicht zwei Uhr morgens, wachte er auf und spürte plötzlich einen dumpfen Schmerz. Einen Schmerz, wie er ihn noch nie gehabt hatte, irgendwo beim Herzen. Francis wusste nicht, wieso. Er schaute sich im Zimmer um.

Anne-Mays Bett war leer.

Er stellte sich vor, wie sie drüben, ein Bier in der Hand, gerade von einem dieser Westküstenwichser begrapscht wurde. Vermutlich ließ sie es sich gefallen, blies ihm sogar einen. Francis hörte wieder, wie nebenan gelacht wurde. Sie lachten ihm da drüben alle ein bisschen zu viel und zu laut! Wenn er in diesem Augenblick eine Waffe gehabt hätte, wäre er aufgestanden und damit ins Nachbarzimmer gegangen. Die Typen hätten gerade einen Witz gerissen, da wäre die Tür aufgeflogen und ein großer Kerl mit einer Shotgun hereingekommen. Einer der Surfer hätte noch gesagt: „Hey, mach keinen Scheiß“, doch da hätte er ihm schon eine Ladung reingeballert und dann auch den anderen, er hätte nachgeladen und geschossen, nachgeladen und geschossen, selbst den einen, der gerade von der Toilette kam, hätte er erwischt.

Er hatte aber leider keine Shotgun. Und wenn er ehrlich war: er hätte auch nichts gemacht, selbst wenn er eine gehabt hätte. Stattdessen machte er sich jetzt bewusst, dass das mit Anne-May keinen Sinn hatte. Sie war fast zwei Jahre älter als er, erfahren, sie war unerreichbar für ihn. Und trotzdem, Francis bekam eher das Gefühl, dass sie ihn nicht liebte, weil ihm etwas Bestimmtes fehlte. Nur was? Vielleicht die Gabe, andere Menschen zu berühren? Ach, Schwachsinn, dachte er, doch der Gedanke ließ ihn nicht los.

Mit einem Satz sprang er auf und suchte in Anne-Mays Sachen nach dem Tagebuch. Er wollte sehen, warum sie ihn nicht wollte, schwarz auf weiß, und wühlte sich durch ihre Tasche, durch ihre Bettdecke und sah auch unter dem Kopfkissen nach. Doch er fand es nicht. Plötzlich schnarchte Grover einmal laut, und Francis erschrak. Er begriff, was er da tat, und legte sich ins Bett zurück. Als Anne-May gegen Morgen ins Zimmer gewankt kam, stellte er sich schlafend.

 

2

 

Carpinteria war ein kleines Städtchen bei Santa Barbara, mit Palmenalleen, mexikanischen Restaurants, Eisdielen und einem Strand. Dr. von Waldenfels wohnte in einem großen Anwesen am Stadtrand, jedenfalls laut der Adresse, die Alistair ihm gegeben hatte. Francis betrachtete das weiße Gittertor. Etwas unentschlossen stieg er aus. Anne-May und Grover meinten, sie würden in der Zwischenzeit in ein Cafe gehen und kämen in einer Stunde wieder. Und schon waren sie weg.

Er drückte die Klingel. Nichts geschah. In der Nachbarschaft bellte ein Hund sinnlos vor sich hin, die Sonne brannte Francis im Nacken, er war todmüde. In diesem Moment überkam ihn die Hoffnungslosigkeit wie nie zuvor. Das einzig Sinnvolle wäre, die Reise zu beenden. Jetzt gleich. Für einen Moment war Francis bereit, die beiden anderen zu verraten. Er konnte abhauen und Ryan bitten, ihm über Western Union Geld für einen Rückflug zu schicken. Zur Not konnte er sich auch die Kohle für ein Greyhound-Busticket erbetteln oder trampen. Vermutlich würde die Begegnung mit seinem Vater sowieso in einer Enttäuschung enden.

Da bewegte sich das Kameraauge. „Ja, wer ist da?“, fragte eine Frauenstimme.

„Ich möchte zu Dr. Friedrich von Waidenfels“, hörte Francis sich sagen.

„Tut mir leid, er empfängt keinen Besuch mehr!“

Das Tor blieb geschlossen.

Francis wendete sich ab und ging ein paar Schritte im Kreis. „Fuck, fuck, fuck!“, schrie er. Sein Unterfangen war hoffnungslos.

Vor Wut drückte er noch mal auf die Klingel. Wieder sekundenlang nichts, dann bewegte sich das Kameraauge erneut.

„Hören Sie, es ist wirklich wichtig. Bitte!“

Rauschen.

„Wieso möchten Sie ihn denn so dringend sprechen?“

„Es ist etwas sehr Persönliches. Ich bin mit dem Auto extra aus Jersey gekommen. Alistair Haley hat mir Ihre Adresse gegeben, er hat mich geschickt und ...“

Das Tor sprang auf.

 

Die weißgetünchte Villa war riesig. Im Garten zwitscherten die Wassersprinkler, in der geöffneten Garage standen ein roter Sting Ray aus den Sechzigern und ein silberner Mercedes. Der alte Waidenfels musste sehr vermögend sein. Gerade als Francis an der Eingangstür läuten wollte, öffnete ihm eine kleine, ältere Dame. Sie mochte Mitte siebzig sein, hatte streng nach hinten gebundenes Haar, aber ein freundliches Gesicht. Sie sagte, sie sei Waldenfels' Frau, und bat ihn herein.

Francis folgte ihr in ein lichtdurchflutetes Wohnzimmer, der Boden war mit hellen Keramikplatten gefliest, der Raum wurde von wuchtigen Bücherregalen und dem Kamin in der Ecke beherrscht.

„Sind Sie Autorin?“, fragte Francis und deutete auf einen Tisch, auf dem einige Zeichnungen und Blätter lagen.

Mrs. von Waldenfels wirkte stolz. „Nun ja, ich arbeite gerade an einem Kinderbuch. Ich mache es aber eher zum Spaß, ich weiß noch nicht, ob ich es veröffentlichen will.“

Sie setzten sich auf das Sofa. Francis erzählte ihr, warum er unbedingt ihren Mann sprechen müsse.

Auf einmal schien sie sich über seinen Besuch zu freuen. „Sie müssen entschuldigen, dass ich vorhin an der Sprechanlage so abweisend war“, sagte sie. „Früher war in diesem Haus immer Betrieb. Aber seit es Fritz ... so schlecht geht, empfangen wir nur noch sehr selten Gäste. Und es gab auch ein paar unschöne Besuche von Journalisten. Doch für Freunde von Alistair mache ich gern eine Ausnahme ... Wie geht es ihm?“

„Gut, denke ich. Ich habe ihm geholfen, seine Möbel zusammenzubauen.“

Mrs. von Waidenfels lachte. „Handwerklich war er nicht gerade geschickt. Dafür war er das klügste Kind, das ich jemals kennengelernt habe, ein mathematisches Genie. Zu schade, dass er nichts draus gemacht hat. Ich habe gehört, dass er inzwischen als Geschäftsführer in einem vegetarischen Restaurant arbeitet. Ist das nicht verrückt?“

Francis wusste darauf nichts zu antworten.

Mrs. von Waidenfels wartete noch ein paar Sekunden, ehe sie sich erhob. „Dann hole ich mal Fritz. Ich werde Armando sagen, er soll Ihnen in der Zwischenzeit ein paar Sandwiches machen. Wenn Sie mögen, können Sie fernsehen.“

Francis hörte, wie sie die Treppen hochging. Fünf Minuten später kam auch schon ein junger Mexikaner ins Zimmer und stellte einen Teller Schinkensandwiches auf den Tisch.

„Danke“, sagte Francis.

Der Mexikaner fragte ihn, woher er käme. „Und du möchtest wirklich den alten Waldenfels sprechen?“, fragte er schließlich.

„Ja, ich brauche Informationen von ihm.“

Armando musste lachen. „Ich weiß nicht, ob du das schon weißt, aber der Alte kann dir gar nichts mehr geben.

Er ist sechsundachtzig und dement. Jede Nacht hat er diese Alpträume und schreit im Schlaf. Die Gesichter irgendwelcher Kinder verfolgen ihn angeblich.“

„Welcher Kinder?“

„Ich weiß es nicht, ich will es ehrlich gesagt auch gar nicht wissen.“

Während Francis darüber nachdachte, ging der Mexikaner aus dem Zimmer. Er selbst betrachtete die Hefte, die auf dem gläsernen Fernsehtisch gestapelt waren. Esquire, Star und Vanity Fair. Daneben lag ein schwarzer Geldbeutel aus Leder, vermutlich hatte ihn jemand dort vergessen. Francis begann in den Magazinen zu lesen, doch schon nach kurzer Zeit bildeten die Buchstaben nur noch das Wort „Doble“.

 

Nach ein paar Minuten hörte er Stimmen. Francis ging zur Treppe im Foyer und sah, wie Mrs. von Waldenfels oben ihren Mann auf den Treppenlift setzte. Dann kam der Alte, auf dem fahrbaren Stuhl thronend, heruntergeschwebt. Francis kam es wie in Zeitlupe vor, und so konnte er ihn genau beobachten. Waldenfels trug einen dunklen Cordanzug, war allerdings schlecht rasiert, das graue Haar war dünn, der Mund schief, die Schnürsenkel an seinem linken Schuh waren offen.

Als der Treppenlift vor ihm hielt, sah der Alte ihn an. „Dass Sie in meinem Haus noch mal auftauchen, kommt einer Unverschämtheit gleich. Das alles ist eine Verleumdung, das wissen Sie genau!“

Francis blickte fragend zu Mrs. von Waldenfels, die nun die Treppe herunterkam. Gemeinsam halfen sie ihrem Mann in den Rollstuhl. „Leider verwechselt Fritz oft die Menschen“, sagte sie entschuldigend. „Sie erinnern ihn wohl an jemand.“ Sie schob den Rollstuhl ins Wohnzimmer, Francis folgte ihnen und setzte sich auf die Couch. Mrs. von Waldenfels fasste ihren Mann beim Arm. „Das hier ist Francis, ein Freund von Alistair.“

Dr. von Waidenfels zog eine Augenbraue hoch. Er dachte lange nach. „Alistair Haley?“, fragte er schließlich.

„Ja, genau“, antwortete Francis. „Er hat mir gesagt, ich soll Sie besuchen.“

Mrs. von Waldenfels schien gerührt. „Das hat er gesagt, wirklich? Sie müssen wissen, früher, als Warren noch gelebt hat, hat er Alistair manchmal mitgebracht, er und Fritz haben dann stundenlang im Arbeitszimmer diskutiert. Leider ist der Kontakt nach Warrens Tod abgerissen. Fritz' Gesundheitszustand ist ja dann auch immer schlechter geworden. Aber dass er Sie zu uns geschickt hat... Hast du das gehört, Fritz?“

Mr. von Waldenfels nickte wohlwollend. „Alistair war ein sehr intelligenter Junge, mathematisch hochbegabt“, sagte er mit nun verblüffend fester Stimme. „Hätten wir doch mehr von seinem Schlag gehabt. Aber es kam zu viel Schrott dabei heraus.“ Auf einmal schien er hellwach. „Alle anderen Kinder waren eher durchschnittlich. Und dann gab es sogar noch Nieten. Mir völlig unverständlich. Man nimmt die besten Zutaten und züchtet Versager. Kein Wunder, dass wir den Laden schließen mussten.“

Bei diesen Worten sah er Francis an, und diesen durchfuhr es wie ein Blitz. Doch wenige Augenblicke später sackte Waldenfels wieder in sich zusammen und schwieg.

Armando kam und schenkte allen Tee ein. Mrs. von Waldenfels bedankte sich, dann wandte sie sich wieder Francis zu. „Haben Sie nicht gesagt, dass Sie ebenfalls ein... wie soll ich sagen ... dass Sie ebenfalls ein Retortenkind sind?“

„Ja, meine Mutter hat an dem Projekt teilgenommen... Stimmt das denn, was Ihr Mann sagt? Waren die anderen Kinder außer Alistair tatsächlich nur durchschnittlich? Und wurde die Samenbank deshalb geschlossen?“

„Nun, es stimmt, die meisten Kinder waren nicht außergewöhnlich. Aber geschlossen wurde die Samenbank nicht deshalb. Es gab einfach zu viel Kritik. Man hat Mr. Monroe und meinen Mann beschimpft und ihnen vorgeworfen, dass sie eine neue Herrenrasse züchten wollten! Dabei brauchen wir nun mal eine experimentierfreudige Wissenschaft, wenn wir Krankheiten heilen oder auch in Zukunft genug Wasser und Energie haben wollen, ohne Kriege zu führen und den Planeten zu zerstören.“

Sie blickte Francis kurz an, als suche sie seine Zustimmung. „Allerdings gab es auch ein paar unglückliche Zwischenfälle. So wurden einige Spender gegen ihren Willen bekannt. Und dann kam auch noch der Vorwurf auf, mein Mann habe während des Zweiten Weltkriegs für die Nazis gearbeitet.“ Sie wirkte verbittert. „Das sind alles Lügen. Fritz hat die Nazis doch aus tiefster Seele gehasst, niemals hätte er für sie gearbeitet. Ich habe ihn kennengelernt, kurz nachdem er in den Fünfzigern nach Amerika ausgewandert war, und ich lebe mit ihm seit nunmehr achtundvierzig Jahren zusammen. Ich kann Ihnen versichern, an diesen Gerüchten ist absolut nichts dran.“

Francis wich ihrem Blick aus und schaute nur zu ihrem Mann. Er stierte ins Leere, und es wurde peinlich still. Dann aber richtete sich Mr. von Waldenfels plötzlich in seinem Rollstuhl auf und griff nach seiner Tasse. Er trank hastig einen Schluck Tee und sah auf die Uhr. „Nun, ich muss die beiden Herrschaften leider verabschieden“, sagte er zu seiner Frau und Francis. „Ich habe gleich ein Meeting mit Warren P. Monroe.“

Mrs. von Waldenfels strich ihm liebevoll über die faltige Hand. „Schatz, Warren ist seit sechs Jahren tot.“

Ihr Mann, der eben noch voller Elan gewirkt hatte, brauchte Zeit, um diese Information zu begreifen. Sie nahm ihm sichtbar den Wind aus den Segeln. Er nickte nur, dann schaute er in Gedanken versunken aus dem Fenster.

Francis hielt das für den geeigneten Zeitpunkt, um zu fragen, ob es im Haus noch alte Spenderakten gebe und ob ihnen der Name Doble bekannt sei.

„Da muss ich Sie leider enttäuschen.“ Mrs. von Waldenfels schüttelte den Kopf. „Fritz besaß ohnehin nie Akten, die waren alle bei Mr. Monroe gelagert. Kurz vor seinem Tod hat er die Unterlagen verbrannt, um die Spender zu schützen. Und von einem Dr. Doble habe ich noch nie gehört. Ich fürchte, wir können Ihnen da leider nicht weiterhelfen.“

Francis sah seine ganze Hoffnung binnen Sekunden schwinden. „Und wissen Sie vielleicht, wer das kann?“

„Nein, tut mir leid, ich kann Ihnen wirklich nicht...“

Ihr Mann hustete. „Zu diskutieren wäre“, begann er einfach, „wie man das volle Potential des Menschen nutzen kann. In einem einzelnen Menschen steckt die Energie von dreißig Atombomben, doch es fehlen die Mittel, um diese Energie freizusetzen. Wenn man doch nur einen Weg finden könnte, dann wäre das Energieproblem der Welt gelöst. Man könnte einfach die Minderleister als Batterien verwenden.“

Er sah die anderen fragend an, doch noch bevor diese verlegen wegblicken konnten, hatte er alles wieder vergessen. Er tätschelte seiner Frau das Knie und sagte mit überraschender Liebenswürdigkeit: „Könnte ich einen Tee haben, Schatz? Ich habe seit Stunden nichts mehr getrunken, bei diesen Temperaturen trockne ich sonst noch aus.“ In seiner linken Hand schwankte die halbvolle Tasse von vorhin.

 

3

 

Sie waren wieder auf dem Highway, noch hundert Meilen bis Los Angeles. „Wie ist es gelaufen?“, fragte Grover.

Francis gestand, dass er noch immer nicht wusste, ob Doble wirklich der Name seines Vaters war. Dass außerdem alle Unterlagen verbrannt worden waren, war ein harter Schlag. Nun war er darauf angewiesen, dass sie ihm in der Monroe-Klinik weiterhalfen. Aber was, wenn sie das nicht konnten oder wollten?

Wie immer, wenn die Dinge schwierig waren und er aufgeben wollte, dachte er an das, was sein Nachbar Toby mal zu ihm gesagt hatte, als er bekifft gewesen war.

„Das Wichtigste ist, dass du deine ganzen beschissenen Träume und Hoffnungen packst und sie nie mehr loslässt“, hatte er gesagt. „Du kannst schreien, du kannst verzweifeln, du kannst winseln. Doch selbst wenn du schon kaum mehr an dich glaubst, du darfst sie nicht loslassen. Denn wenn du's tust, dann ist's aus, Kleiner. Ab dem Zeitpunkt ist dein Leben vorbei. Dann kannst du zwar noch jahrelang durch die Welt wandeln, aber innerlich bist du längst tot... so wie die meisten hier.“

 

Sie erreichten l. a. am Nachmittag. Die Stadt war brutal heiß, grau, versmogt, der mehrspurige Verkehr kam nur schleppend voran. Grover rammte einmal fast einen Chrysler. Im Radio lief ein Song von Eric Burdon und den Animals. Francis horchte auf, es war eines der Lieblingslieder seiner Mutter. Er erinnerte sich, wie sie in der Küche gestanden und mitgesungen hatte:

 

When I was young

it was more important.

Pain more painful,

the laughter much louder

When I was young.

 

Francis schämte sich, dass er seine Mutter noch nicht von unterwegs angerufen hatte. Tausendmal hatte er es sich schon vorgenommen. Er wusste, dass sie viel lieber hier im Westen leben würde, wo sie geboren war. Doch jetzt, da er das Geld verspielt hatte, waren das wohl nur noch Hirngespinste.

Auf der Fahrt beobachtete Francis wieder alle Männer, die sein Vater hätten sein können. Als sie an einer roten Ampel standen, entdeckte er schließlich das Profil eines großen, kantigen Mannes Ende vierzig, das ihm recht ähnlich sah. Er trug einen Anzug und hatte eine randlose Brille. Das ist er, durchzuckte es Francis. Aber dann wandte ihm der Mann das Gesicht zu, und er sah, dass er sich getäuscht hatte.

 

Die Monroe-Klinik befand sich downtown. Als Francis auf das Gebäude zuging, funkelte die dunkle Außenfassade in der Sonne. An den Ort seiner Zeugung und Geburt zurückzukehren war ein seltsames Gefühl. Er versuchte sich seine Mutter vorzustellen, wie sie noch ganz jung war und sich mit den anderen Frauen einen Vortrag von Monroe anhörte, oder Dr. Doble, wie er hier vor zwei Jahrzehnten über den Parkplatz lief. Alles, was vor kurzem noch so beruhigend weit weg schien, war plötzlich ganz nah.

An der Information erfuhr Francis, dass sich die Klinik inzwischen auf kosmetische Operationen spezialisiert hatte. Im Foyer rauschte ein künstlich angelegter Bach, aus Lautsprechern klang Musik, und überall schien es Flachbildschirme, Wasserspender und Pflanzen zu geben. Schnell wurde ihm klar, wie aussichtslos sein Plan war. Das Gebäude war wie ein Labyrinth, er irrte von einer Vorzimmersekretärin zur nächsten. Alles, was er vorzuweisen hatte, waren ein paar Artikel über die Samenbank der Genies, doch die gab es ja nicht mehr. Über eine Stunde wurde er kreuz und quer durch die Klinik geschickt, aber einen Arzt aus früheren Zeiten traf er nicht an, die meisten waren nach Monroes Tod ausgewechselt worden. Nun arbeiteten hier junge Männer mit gebräunter Haut und muskulösen Körpern. Den Namen Doble hatten sie noch nie gehört.

Endlich stieß Francis doch noch auf einen Mitarbeiter, der die Samenbank der Genies kannte. Der Arzt musterte ihn von oben bis unten und meinte, dass man ihm hier nicht helfen könne. Selbst wenn es noch Akten gäbe, würden sie der Schweigepflicht unterliegen.

„Aber ich suche meinen Vater!“

„Tut mir leid, da ist nichts zu machen.“

Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, ging der Arzt weiter.

Das war's also, dachte Francis. Er musste sich zusammenreißen, um vor Enttäuschung nicht zu schreien. Wie hatte er auch nur eine Sekunde lang glauben können, dass man jemandem wie ihm einfach so weiterhalf? Wie kindlich war es gewesen, zu hoffen, man könne mal eben in diese Klinik hineinspazieren und an Unterlagen kommen, die es vermutlich längst nicht mehr gab?

In der Empfangshalle traf er auf Grover und Anne-May. Er schüttelte nur den Kopf. Es war alles schiefgegangen, er hatte im Casino verloren, und seinen Vater würde er auch niemals finden. Er war Tausende von Meilen gefahren, alles umsonst. Aber vielleicht war das ja besser so. Denn wahrscheinlich war ihm damit die grausame Begegnung mit jemandem erspart geblieben, der ihn sowieso nicht sehen wollte.

„Kommt, wir hauen ab“, sagte Francis.

 

In dem Moment, als sie die Klinik verlassen wollten, schien die Sonne so grell durch die Fenster, dass es Francis blendete. Er hielt sich die Hand vor die Augen und wandte den Blick ab. Da sah er, wie ein älterer Arzt aus einem Behandlungszimmer kam und zum Aufzug ging. Er war alt genug, um schon zur Zeit der Samenbank hier gearbeitet zu haben. Francis zögerte kurz, dann rannte er auf ihn zu.

„Da hat es aber einer eilig“, sagte der Mann, nicht unfreundlich.

Francis reichte ihm einen der Artikel über die Samenbank der Genies. Der Arzt warf einen längeren Blick darauf. Er war der Erste in dieser Klinik, der so wirkte, als könne er mit dem Thema etwas anfangen. „Und, wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

„Ich suche meinen Vater, er war ein Spender und heißt wahrscheinlich Doble. Ich möchte ihn unbedingt treffen und bin extra aus New Jersey hergekommen, aber ich weiß nicht, wo er wohnt. Haben Sie hier gearbeitet, als die Samenbank noch existierte?“

„Nein, tut mir leid, ich bin erst seit zwei Jahren hier.“

Als der Arzt sah, dass Francis am Verzweifeln war, fügte er hinzu: „Aber Andy Kinnear müsste es wissen, er arbeitet seit zwanzig Jahren in dieser Klinik.“

Ein unscheinbarer Typ namens Andy, der in mich verliebt war, schoss es Francis durch den Kopf. „Und wo ist er?“

„Diese Woche hat er frei. Er wohnt drüben in Hollywood. Ich müsste aber seine Adresse haben, sie ist in meinem Büro... Andy ist ein Freund von mir, das sollte in Ordnung gehen.“

Sie liefen den Flur entlang, unterwegs traute sich Francis vor Aufregung nicht zu sprechen. Vor einer der letzten Türen blieb der Arzt stehen. „Fünf Minuten“, sagte er, dann verschwand er. Auf dem Türschild stand: „Dr. Greg Huckstable“. Fast wie bei der Serie mit Bill Cosby, die Francis früher oft angeschaut hatte.

Neben dem Zimmer stand eine Wartebank, auf der zwei Mädchen saßen. Die eine las in einem Modemagazin und warf ihm einen kurzen Blick zu, die andere sah wie hypnotisiert auf den Flachbildschirm an der Wand gegenüber, wo Präsident Bush auf cnn gerade eine Rede hielt. Wieder waren acht Soldaten getötet worden. Francis setzte sich neben das Mädchen, das fernsah.

„Fuck you, Bush“, sagte sie. „Ich meine, angeblich hat ihn keiner gewählt, trotzdem hat er die Wiederwahl gewonnen.“

„Meine Eltern haben ihn gewählt, das weißt du doch“, sagte ihre Freundin gelangweilt und noch immer in das Magazin vertieft.

„Ach ja? Ich dachte immer, sie sind gegen den Krieg.“

„Der Krieg ist ihnen völlig egal. Bush macht für sie gute Steuergesetze, das ist alles.“

„Kann ich euch was fragen?“, unterbrach Francis die beiden. Er war so nervös, dass er einfach mit jemandem reden musste.

Sie blickten zu ihm. „Und was?“

„Wieso seid ihr hier?“

Das eine Mädchen rollte mit den Augen und las weiter, das andere schaute ihn an. „Meine Nase“, sagte sie. „Und du?“

„Ich wurde hier gezeugt!“

Sie starrte ihn mit offenem Mund an. In diesem Moment kam Dr. Huckstable aus seinem Büro und drückte ihm einen Zettel in die Hand. „Hier, das ist Andys Adresse. Besuchen Sie ihn am besten morgen früh gegen halb neun, da kommt er immer vom Laufen. Wenn Sie möchten, kündige ich Sie bei ihm an.“

Francis hätte den alten Arzt am liebsten umarmt.

Dieser wich vorsichtshalber einen halben Schritt zurück, lächelte aber. „Mich hat die Geschichte der Samenbank der Genies immer fasziniert. Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Sind Sie hochbegabt?“

Die beiden Mädchen verfolgten alles mit Interesse.

„Ich weiß es nicht.“

„Nun, war reine Neugierde. Sie fragen sich vielleicht, wieso ich Ihnen einfach die Adresse meines Kollegen gebe. Dazu müssen Sie wissen, dass es bei uns Ärzten zwei Meinungen gibt. Die eine lautet, es sei unverantwortlich, die Namen der Samenspender zu verraten, man würde ihr Leben zerstören. Ich bin jedoch der Meinung, dass man sonst das Leben der Kinder zerstört. Der Samenspender wusste immerhin, was er tat, er kannte sein Risiko. Die Kinder dagegen wurden ungefragt in die Welt gesetzt und müssen nun mit ihrem vaterlosen Schicksal leben. Ich halte das für unverantwortlich. Sollte Andy also tatsächlich noch Akten haben, werde ich dafür sorgen, dass Sie sie bekommen. Einverstanden?“

Francis nickte. Sein Grinsen reichte von Los Angeles bis nach Claymont.

 

4

 

Nachdem er sich bei Dr. Huckstable bedankt hatte, rannte Francis triumphierend zu den anderen zurück. Ihm war sogar egal, dass Anne-May sich nur kurz mit ihm freute und danach wieder abweisend war. Sie fanden eine Pension am Stadtrand. Es roch nach alter Wäsche und Putzmitteln. Die Frau an der Rezeption trug eine schmetterlingsförmige Brille und beäugte sie misstrauisch. Während die beiden anderen zahlten, betrachtete Francis die Flyer, die auf einem Tisch im Speiseraum auslagen.

Als Anne-May später duschen ging, stupste er Grover an.

„Was ist, Francis?“

„Ich würde heute Abend gern was mit Anne-May allein machen. Geht das?“

Grover sah ihn durch seine Brille an und nickte.

Eine Weile saßen sie stumm nebeneinander auf dem Bett. Francis spürte, dass ihre Freundschaft in den letzten Tagen gelitten hatte. Er wollte etwas sagen, was sie einander wieder näherbrachte. Doch er war einfach nicht gut in diesen Dingen, wie immer fiel ihm nichts ein. Er lauschte, wie nebenan in der Dusche das Wasser niederprasselte.

„Ich weiß nicht, ob ich nach Yale will“, sagte Grover in diesem Augenblick.

„Was?“ Francis sah ihn erstaunt an. „Aber dann kommst du endlich aus unserem Kaff raus.“

„Ja, schon. Aber vielleicht will ich das gar nicht. Mir hat es immer gut in Claymont gefallen. Du hattest recht. Es fällt mir schwer, was Neues anzufangen.“

„Ach Bullshit, das wird toll werden. Du wirst auf einem Campus leben, da ist bestimmt jeden Tag was los. Unter der Woche studierst du, und am Wochenende gehst du mit deinen Freunden was trinken und auf Partys.“ Francis konnte kaum aufhören, sich das vorzustellen. Schon als Kind hatte ihn das Campusleben fasziniert. „Und was meinst du, was für Frauen da in Yale sein werden?“, fragte er. „Die besten überhaupt, die sind hübsch und gleichzeitig wahnsinnig schlau. Also genau richtig für dich.“

Grover lächelte. „Vielleicht... Es ist nur: Was, wenn mich auch in Yale niemand leiden kann, wenn ich da völlig allein bin? In Claymont hatte ich immer dich.“

„Das wird sich doch auch nicht ändern. Aber ich schätze, es ist schon richtig, dass wir auch mal neue Leute kennenlernen. Und wir beide sehen uns einfach, wenn du Semesterferien hast, oder ich komme dich mal besuchen.“

Grover nickte, aber zufrieden schien er damit nicht. Er trug ein Shirt aus dem Film Napoleon Dynamite, auf der Vorderseite stand „Vote for Pedro“. Nachdenklich kaute er auf seiner Unterlippe.

Francis wollte ihn aufmuntern. „Sag mal, weißt du noch, wie wir als Kinder immer Serien und Filme miteinander verglichen haben? Wer zum Beispiel stärker ist, der American Fighter oder der Karate Tiger?“

Grover war sofort bei der Sache. „Ja, oder Stallone als Rocky gegen Stallone als Rambo. Du warst immer für Rocky, dabei hätte der doch gar keine Chance gegen Rambo gehabt.“

Francis schüttelte den Kopf und meinte, dass Rocky sehr wohl eine Chance gehabt hätte. Sie fingen an zu diskutieren, dachten sich immer neue Fragen aus und spielten dieses alberne Spiel ein letztes Mal.

 

Anne-May hatte sich umgezogen und stadtfein gemacht. Als sie zum Aufbruch bereit war, sagte Grover, dass er höllische Kopfschmerzen habe. Er machte das ganz überzeugend und meinte, er würde den Abend lieber im Motel verbringen und früh schlafen. Francis nickte ihm heimlich zu und bildete mit Zeigefinger und Daumen einen Kreis, dann fuhren er und Anne-May allein mit dem Bus in die Stadt zurück.

„Hm, mal schauen, was wir heute machen“, sagte er, als sie am Civic Center ausstiegen.

Anne-May nickte kühl, und ihm dämmerte, dass sie das nicht gerade geniale Manöver mit Grover durchschaut hatte und ihn das jetzt büßen ließ. Sie war wirklich zu schlau für ihn.

Unzählige Autos sausten an ihnen vorbei, sie schienen die Einzigen zu sein, die in dieser Stadt zu Fuß unterwegs waren. „Hast du auf was Bestimmtes Lust?“, fragte er.

„Nein.“

„Komm, irgendwas. Wir machen auch, was du willst. Wir können Billard spielen oder in einen Club gehen oder in ein Restaurant oder ins Kino.“

„Entscheide du“, sagte sie, und er merkte, dass sie auf all diese Sachen keine Lust hatte. In der Klinik hatte er sie für sich allein gehabt. Er hatte nicht viel machen müssen, außer täglich in ihr Zimmer zu kommen und einfach da zu sein. Hier draußen aber hatte er keine Chance, denn sie hatte ihn als Langweiler abgeschrieben. Anne-May brauchte überhaupt nichts zu tun, und er liebte sie immer stärker. Sie hätte einen Apfel essen können, und er wäre begeistert gewesen. Er selbst musste sich dagegen ungeheuer anstrengen. Und an diesem Abend würde er das tun!

Sie gingen an Cafes, Kliniken und Banken vorbei und bogen in die Grand Ave ein. Auf einmal standen sie vor dem Baukomplex aus Stahl, den er schon vorhin auf einem Flyer in der Pension gesehen hatte. Das Gebäude glich mit seinen geschwungenen Bögen einem gigantischen silbernen Segelschiff. Dutzende Menschen strömten darauf zu, Francis ging einfach mit. Anne-May folgte ihm eher widerwillig.

„Weißt du, von wem der Bau hier ist?“, fragte er sie.

„Mein Vater ist mit dem Architekten befreundet, er ist von Gehry.“

Als sie ihren Vater erwähnte, zuckte er zusammen. „Ja, aber weißt du auch, was in diesem Gebäude drin ist?“, fragte er weiter.

„Sicher. Wieso?“ Endlich erkannte er in ihrem Blick eine erste Spur von Aufregung.

Und dann standen sie auch schon vor einem Aufsteller mit dem Plakat: Los Angeles Philharmonie Orchestra.

 

Francis schleppte Anne-May zur Abendkasse. Er hatte hohe Preise erwartet, doch was er nun sah, übertraf seine Vorstellungen bei weitem. „Francis, was machst du da?“

„Es war doch immer dein Wunsch, die Philharmoniker in Los Angeles zu hören, oder? Das hast du mir jedenfalls mal in der Klinik gesagt. Und ich hab gesehen, dass heute eine Aufführung ist.“

„Aber das kostet viel zu viel, du hast doch gar kein Geld dafür“, sagte sie, allerdings war sie jetzt bei der Sache.

„Das werden wir sehen.“ Francis zog einen großen Geldbeutel aus der Tasche.

„Woher hast du den?“

„Willst du nicht wissen“, sagte er und öffnete Dr. von Waldenfels' Lederportemonnaie. Schon vor ein paar Stunden hatte er enttäuscht feststellen müssen, dass weder Kreditkarten noch wichtige Telefonnummern darin zu finden waren. Dafür aber knapp sechshundert Dollar. Eine kleine Entschädigung für den Wahnsinn seiner Zeugung.

Er nahm ein paar Scheine in die Hand und kaufte zwei der teuersten Konzerttickets.

„Tschaikowsky“, flüsterte Anne-May, als sie hineingingen. „Ich liebe ihn.“

Der Saal war brechend voll, von überall her hörte man gedämpftes Stimmengewirr. Die Zuschauerplätze waren rund um die Bühne angeordnet, sie saßen nur wenige Meter von den Musikern entfernt. Francis genoss Anne-Mays Blicke, und auf einmal sprudelte es aus ihr heraus. Sie erzählte, wie sie als Kind vor dem Einschlafen die l. a. Philharmoniker gehört und wie oft sie sich diesen Moment vorgestellt habe. Als die Musiker ihre Instrumente gestimmt hatten und der Dirigent die Arme erhob, stieß sie Francis vor Aufregung kurz in die Seite und schaute gebannt auf die Bühne. In diesem Moment kam ihm Anne-May sehr kindlich vor, und er meinte, das zehnjährige Mädchen zu sehen, das sie einmal gewesen war.

Die Musik breitete sich im Saal aus. Im Orchester war etwas entstanden, es flog von der Violine zu den Oboen und Trompeten, es streifte die Hörner, Klarinetten und die Pauken und wehte dann nach oben zu der Decke aus Holzbögen. Schließlich flog es zu den Zuschauern, es traf sie nicht unerwartet und dennoch stark, es berührte jeden auf andere Weise. Als es Anne-May erwischte, bekam sie glänzende Augen, und als es zu Francis kam, blickte er zu der Hand, die neben seiner lag. Vorsichtig tastete er nach Anne-Mays Fingern. Erst reagierte sie nicht, dann schien ihre Hand zu erwachen und nach seiner zu greifen.

 

Nach der Vorführung schwärmte Anne-May von der einzigartigen Akustik und bedankte sich überschwenglich für die Einladung. „Als Kind hab ich Tschaikowskys Violinkonzert nicht gemocht“, sagte sie. „Aber jetzt hat es mir gefallen. Der Geiger war großartig!“

Francis nickte zwar, ihn interessierte jedoch mehr, dass sie sich wieder bei ihm eingehakt hatte. In einem nahe gelegenen italienischen Restaurant bestellten sie Spaghetti mit Meeresfrüchten, dazu tranken sie Rotwein. Zum ersten Mal fiel Francis das Reden leicht. Der Erfolg mit den Philharmonikern und die Tatsache, dass er vielleicht bald seinen Vater sehen würde, versetzten ihn in einen Rauschzustand. Er hatte das Gefühl, noch nie so gut gewesen zu sein, er war schlagfertig und witzig, und ihm war, als könne er dabei zusehen, wie Anne-May sich in ihn verliebte. Beim Dessert nannte sie ihm ihre Lieblingsgedichte, sie konnte ein paar von einem Typen namens „Whiteman“ oder so auswendig und trug sie ihm vor. Er selbst hatte natürlich keine Lieblingsgedichte, er kannte nur Filme und Serien. Doch an diesem Abend gelang ihm alles, das spürte er, und er hatte etwas, das noch viel besser war als die Gedichte von diesem „Whiteman“.

„Kennst du Blade Runner, mit Harrison Ford?“, fragte er. „Die Szene, in der der Replikant stirbt und man erkennt, dass er eigentlich menschlicher als alle Menschen war? Seine letzten Worte sind zwar kein Gedicht, aber ziemlich philosophisch. Wird dir gefallen.“

Anne-May schüttelte den Kopf und sah ihn gespannt an.

„Also, Replikanten sind künstlich gezüchtete Menschen. Manche wissen aber nicht, dass sie Replikanten sind, sie glauben echte Menschen zu sein. Die meisten werden gejagt und getötet. Und am Schluss des Films gibt es eine Szene, in der Harrison Ford den Anführer der Replikanten erwischt hat. Es ist Nacht, der Replikant liegt im Sterben. Während der ganzen Geschichte dachte man, er sei nur ein gefühlskalter Roboter. Aber dann sagt er - es regnet in Strömen - im Moment seines Todes noch ein paar Worte:

 

Ich habe Dinge gesehen, die ihr Menschen niemals glauben würdet. Gigantische Schiffe, die brannten, draußen vor der Schulter des Orion. Und ich habe C-Beams gesehen, glitzernd im Dunkeln, nahe dem Tannhäuser Tor.

All diese Momente werden verloren sein in der Zeit, so wie... Tränen im Regen.

 

Zeit zu sterben.

 

Francis konnte das auswendig, weil ihn die Szene ziemlich berührt hatte, als er den Film das erste Mal sah. Er wusste nicht, wieso, aber als er diese Worte gehört hatte, hatte er feuchte Augen bekommen. Er hatte damals immer wieder das Video zurückgespult und sich gedacht: Das ist es... Genau das ist es!

Er strahlte Anne-May an.

„Ist das etwa schon das ganze Gedicht gewesen?“, fragte sie.

Francis nickte.

„Das ist doch bescheuert, du kannst doch Walt Whitman nicht mit Blade Runner vergleichen“, sagte sie, aber er sah genau, dass es ihr gefallen hatte.

Als sie ins Motel kamen, schlief Grover schon in seinem Bett. Francis blickte Anne-May lange an. Dann ging er auf sie zu und küsste sie. Sie liebten sich im Badezimmer, und obwohl das ziemlich kompliziert gewesen war, wusste Francis, dass jetzt wieder alles gut war. Endlich hatte er sie für sich. Im Bett legte sie ihren Arm auf seinen Bauch, und er schlief so schnell ein wie seit Monaten nicht mehr.

Um vier Uhr morgens wachte er auf, weil er jemanden schluchzen hörte. Anne-May lag nicht neben ihm. Francis fand sie im Bad. Dort saß sie auf dem Boden und heulte. Blut rann aus den Schnittwunden an ihrem linken Arm und tropfte auf die weißen Kacheln.

 

5

 

„Was machst du da?“ Francis richtete sie auf. Die Schnittwunden waren Gott sei Dank nur am Unterarm und nicht an den Handgelenken. Am Boden lag ein aufgeklapptes Messer. Er klappte es zu und steckte es ein. „Wieso machst du das, wieso?“

Sie weinte noch immer. „Ich ... kann ... nicht mehr.“

„Was ist denn los?“

„Ich liebe dich nicht, Francis, ich liebe dich einfach nicht.“

Scheiße, dachte er. Wie gelähmt stand er da und murmelte geistesabwesend, dass sie sich deshalb doch nichts anzutun brauche.

Anne-May sank wieder auf den Boden, er setzte sich neben sie. Sie schneuzte sich mit Toilettenpapier. „Es war alles gelogen, was ich dir gesagt habe.“

„Was war gelogen?“, fragte er.

„Mein Vater hat mich nie vergewaltigt.“

„Nein?“

„Nein, ich bin nicht deshalb in die Klinik gekommen.“

„Aber warum sonst?“

„Ja, warum...“ Sie lächelte, aber es wirkte falsch, wie eine schlechte Nachahmung. „Ich wollte nicht sterben, wirklich nicht. Aber ich wollte auch nicht mehr so weiterleben.“

Sie bemerkte seinen irritierten Blick und schüttelte den Kopf. „Ich war elf, als mein Bruder totgefahren wurde“, sagte sie. „Er war damals sieben, und es war meine Schuld, ich hätte auf Jerome aufpassen sollen. Mein Vater war wegen seinem Job oft in New York, und meine Mutter war ebenfalls viel beschäftigt. Also haben sie mir Jerome anvertraut. Einmal sollte ich ihn zur Mall mitnehmen, was mich sehr genervt hat. Außerdem war ich eifersüchtig auf ihn, weil ihm meine Eltern so viel erlaubt haben, in seinem Alter durfte ich nie ohne Erwachsene zur Mall. Ich ging deshalb absichtlich ein paar Meter vor ihm und beachtete ihn nicht. Wir waren schon auf dem Rückweg. Jerome war immer zappelig und ließ sich leicht ablenken, und dann wollte er plötzlich wegen irgendwas auf die andere Straßenseite. Ich hatte mich umgedreht, doch ich stand viel zu weit weg, er war schon losgerannt. Ich hab gebrüllt, dass er aufpassen soll, dann hat es einen dumpfen Knall gegeben. Ich sah ihn auf der Straße liegen und bin zu ihm hin. Er sah so furchtbar aus ...“ Sie schloss die Augen und schien die Bilder abschütteln zu wollen.

Francis lehnte den Kopf gegen die Wand. „Das ist nicht deine Schuld“, sagte er, aber es klang leer. „In tausend anderen Fällen passiert der Unfall nicht. Und du warst doch selbst noch ein Kind.“

Anne-May reagierte kaum darauf. „Sie haben sein Zimmer genau so gelassen, wie es war, sogar jetzt noch“, sagte sie. „Mein Vater hat nur noch gearbeitet und war fast nie zu Hause, und meine Mutter wurde übertrieben religiös. Sie hat viel geweint, auch mein Vater manchmal, nur ich selbst nie. Es gab über den Tod meines Bruders einen Zeitungsartikel, und den hab ich oft durchgelesen und mich dafür verflucht, dass ich nicht so traurig war, wie ich es hätte sein müssen. Mir kam es in den Jahren danach immer mehr so vor, als ob ich einfach nicht richtig fühlen konnte. Nicht lieben, nicht weinen und auch nicht glücklich sein. Ich war einfach nur kalt. Das hat mich krank gemacht. Ich meine, wer will schon so sein? Ich hab mich in der Schule zurückgezogen und mit dem Klavierspielen aufgehört. Wenn ich Menschen gezeichnet habe, hatten sie Augen ohne Pupillen, ganz leer. Ich fand es schöner so, aber ich wusste, dass das nicht normal war. Danach habe ich angefangen, Mäuse zu zeichnen, da ist das nicht so aufgefallen.“

Sie schneuzte sich noch mal. „Es wurde mit der Zeit immer schlimmer“, sagte sie. „Es kam noch der Druck dazu, den meine Eltern ausgeübt haben, weil sie jetzt wenigstens eine scheiß perfekte Tochter haben wollten, was weiß ich. Ich war dann mal kurz wegen Magersucht in Behandlung und hab zu viel gekifft. Ich hab mich gehasst. Dafür, dass ich nie traurig oder zumindest wütend gewesen bin. Dafür, dass meine Eltern mit mir immer tun konnten, was sie wollten. Dann hab ich mich jedes Mal gefragt, wo Jerome jetzt ist und was nach dem Tod passiert. Und schließlich gab es da diese eine Nacht, in der ich zu viel geraucht und zu viel düstere Musik gehört habe und wohl zu weit gegangen bin.“ Sie richtete sich auf. „Aber egal. Ich bin jedenfalls nicht vergewaltigt worden, und ich will, dass du das weißt.“

Francis war unsicher, wie er reagieren sollte. Das Sitzen auf dem Boden war unbequem, sein Rücken begann zu schmerzen. „Ich weiß nicht, was ich dir auf das alles antworten soll“, meinte er schließlich. „Das tut mir leid, denn ich würde dir jetzt wirklich gern was Schönes und Aufbauendes sagen.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Francis. Für gar nichts. Du bist wirklich der beste Mann, den ich mir vorstellen kann.“ Ihre Hand lag auf seinem Arm. „Und ich fühle mich auch manchmal wirklich zu dir hingezogen. Aber ich liebe dich einfach nicht - und deshalb hasse ich dich vielleicht sogar. Ich dachte, das hätte ich dir in den letzten Tagen klargemacht. Aber dann kamst du heute mit den Philharmonikern, und das war so wunderbar von dir. Ich wollte es wirklich noch mal mit dir probieren und habe so getan, als ob ich das Gleiche für dich empfinde wie du für mich ... Aber ich kann einfach nicht.“

Francis betrachtete den tropfenden Wasserhahn. Er versuchte immer die Augen zu schließen, bevor der nächste Tropfen herunterfiel. An diesem Abend in l. a. hatte er alles gegeben, was er hatte, und es war offenbar immer noch zu wenig gewesen.

Sie saßen eine Weile einfach nur da.

„Das mit deinem Dad beruhigt mich jedenfalls“, sagte er in die Stille. „Als du neulich die Frage nicht beantworten wolltest, wer dein erstes Mal war, da dachte ich schon, es wäre dein Vater gewesen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Du warst mein erstes Mal.“

„Was?“

„In der Klinik, auf dem Flügel. Ich war noch Jungfrau, es war auch mein erstes Mal.“

Was?“

„Ich hasse die meisten Männer, ich wollte auch nie einen Freund. Es hat mich immer angewidert, wie die Typen mich angesehen haben. Du hast mich zwar auch so komisch angesehen, aber du warst trotzdem anders, ich weiß nicht, wieso. Verdammt, ich weiß gar nichts mehr.“

„Und wozu dann die Nymphomaninnen-Nummer?“

„Zum Schutz. Lieber die größte Hure der Welt sein als die seltsame Frau, die keine Männer mag.“

Francis biss sich auf die Lippe und dachte nach. „Okay, ich sag dir jetzt mal was. Ich weiß, dass wir gut zusammenpassen würden. Mehr, als du ahnst. Ich liebe dich so sehr, das reicht für uns beide! Dann kannst du mich halt nicht lieben, mir egal. Wenn du dafür nur in meiner Nähe und nicht mehr absichtlich so kalt bist wie in den letzten Tagen. Du brauchst mir nichts mehr vorzuspielen oder Gefühle zu heucheln. Ich weiß, wer du bist, ich kenne jetzt deine Geheimnisse, so wie du meine.“

Sie kaute an einem Fingernagel. „Das geht alles trotzdem nicht, und das weißt du“, sagte sie. „Meine Eltern würden dich nie, nie, nie akzeptieren. Sie würden dich nicht ausstehen können und dir das Leben zur Hölle machen. Du kennst sie nicht, du weißt nicht, wie sie sein können. Außerdem würden wir einander sowieso nicht guttun. Du bist ein Verlierer aus dem Trailerpark, und ich bin eine selbstmordgefährdete Patientin, die nicht richtig lieben kann. Du bist gestört, und ich bin gestört.“

„Minus mal minus ergibt plus, Anne-May.“

Sie musste lächeln, während ihr die Tränen herunterliefen. „Minus mal minus ergibt plus“, wiederholte sie. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn auf den Mund. „Ich habe in der letzten Zeit wirklich oft an dieses Häuschen in San Francisco gedacht. Wenn wir da nur einfach hinziehen und alles hinter uns lassen könnten... Ich würde es machen. Sofort. Aber das Leben ist nicht so einfach, und das weißt du auch.“

„Aber ich ... will!“ Er schrie es fast.

„Du willst immer zu viel, Dean!“, sagte sie und drückte seine Hand. Das war der Moment, in dem Francis ahnte, dass er auch Anne-May verlieren würde.

Sie wischte sich über die Augen. „Du hättest eben im Casino deine Million gewinnen müssen, dann wäre jetzt alles einfacher.“

„Ja, das war dumm, dass ich das nicht geschafft habe. Die Spieler neben mir waren schuld, die haben mich nervös gemacht.“

Er lächelte, während Anne-May das Blut von den Wunden an ihrem Unterarm tupfte und sich ein Pflaster draufmachte. Danach ging sie zu Bett. Francis folgte ihr, sie schmiegte sich unter der Decke an ihn. Seltsamerweise schliefen sie gut.

 

6

 

Andy Kinnear wohnte in einem kleinen Haus in Hollywood. Hier hatte jeder seinen Garten, Francis sah spielende Kinder, es war grün und friedlich und familiär. Der Walk of Fame, die schönoperierten Zombies und das Kodak Theatre, in dem die Oscars verliehen wurden, waren nur wenige Meilen entfernt, doch hier war davon nichts zu spüren.

Francis rieb sich die Augen. Obwohl die letzte Nacht heftig und zu kurz gewesen war, fühlte er sich nun tatkräftig und energiegeladen. Während Anne-May und Grover noch schliefen, stand er um Punkt halb neun vor der Haustür der Kinnears und läutete. Ihm öffnete eine rothaarige Frau, kaum älter als dreißig.

„Hi! Ich bin Francis Dean, ich möchte gern zu Mr. Kinnear.“

„Ach, Francis. Greg hat gestern angekündigt, dass du kommst. Mein Mann wollte eigentlich schon zurück sein, er geht um diese Zeit immer laufen. Komm doch rein. Ich bin Lorraine.“

Sie gab ihm die Hand und führte ihn ins Wohnzimmer. Es war hell und gemütlich eingerichtet, allerdings herrschte eine ziemliche Unordnung. Überall lagen Spielsachen verstreut, und tatsächlich kam nun auch ein kleiner Junge ins Zimmer. Er hatte ebenfalls rote Haare und war vielleicht drei oder vier.

„Hallo!“, sagte Francis.

„Hallo!“, antwortete der Junge nach einem Zögern.

„Das ist Miles“, sagte Mrs. Kinnear. „Und das hier ist Katherine.“ Sie deutete auf ein Bettchen in der Ecke, in dem ein Baby lag.

Beim Namen seiner Mutter zuckte Francis zusammen.

Mrs. Kinnear fragte ihn, ob er etwas trinken wolle, und verschwand in der Küche. Francis blieb zurück und bemerkte, dass ihn der Junge mit seinem Blick fixierte. Schließlich fing er an, Grimassen für Miles zu machen. Zu seiner Erleichterung funktionierte es, und das Kind lachte.

Kaum war Mrs. Kinnear mit einem Glas Saft zurück, kam auch schon ihr Mann zur Haustür rein. Er trug einen blauen Jogginganzug und war völlig verschwitzt. „Tut mir leid, war noch was einkaufen“, sagte er zu seiner Frau und stellte eine Tüte von Trader Joe's auf eine Ablage. Dann sah er Francis und erstarrte. „Diese Ähnlichkeit“, sagte er. „Unfassbar.“

 

Als sie allein waren, setzten sich Andy und Francis auf das Sofa vor dem Fernseher. Andy Kinnear war ein freundlich aussehender Matthew-Perry-Typ Ende vierzig, deutlich älter als seine junge Frau. Er wirkte fit für sein Alter, sein braunes Haar war noch immer dicht, keine Spur von Grau.

„Du siehst deiner Mutter wirklich sehr ähnlich“, sagte er. „Du hast viel, was mich an sie erinnert. Nur dein Kinn ist anders ... Als mir Greg gestern von dir und deiner Geschichte erzählt hat, habe ich erst nicht begriffen, wer du bist. Aber bei Dean wusste ich dann, um wen es sich handelt. Schließlich hat der Name für mich eine spezielle Bedeutung.“ Er seufzte. „Auf einmal kam alles wieder hoch.“

Francis deutete auf das Bettchen in der Ecke, in dem die kleine Katherine lag.

Andy nickte. „Deine Mutter war die erste große Liebe meines Lebens. Als ich sie damals bei dem Projekt kennenlernte, war ich sofort verrückt nach ihr. Und dann hat sie mit mir... Sie hat sich an mich rangeschmissen, um an diese Akten zu kommen. Das hätte sie nicht tun brauchen, ich hätte auch so alles für sie getan. Jedenfalls wurde es danach noch schlimmer. Deine Mutter hatte so viel Feuer, sie konnte einen zum glücklichsten oder traurigsten Mann dieser Welt machen. In meinem Fall leider beides.“

Francis dachte an die vierzigjährige Frau, die jetzt Tausende von Meilen entfernt in einem Klinikbett lag. Am liebsten hätte er sofort gefragt, ob sein Vater wirklich Doble hieß, doch gleichzeitig hatte er schreckliche Angst davor, dass Andy ihn dann nur fragend ansehen und den Kopf schütteln würde.

Daher erkundigte er sich erst mal, ob Andy wissen wolle, was seine Mutter jetzt mache. Zu seiner Überraschung sagte Andy nein. „Ich habe ein bestimmtes Bild von ihr, und das ist eingefroren und Vergangenheit.“

„Eingefroren“, sagte Francis. „Das ist ja auch schon das Stichwort.“

Andy lachte. „Immerhin nimmst du es mit Humor. Es gibt genügend Geniekinder, die mit ihrem Schicksal nicht fertiggeworden sind.“

„Na ja, anfangs war's seltsam. Aber wenn ich ehrlich bin, finde ich es mittlerweile sogar ganz gut, dass ich ein Teil dieses Projekts bin.“ Er wich Andys überraschtem Blick aus. „Ich kann das nicht mal meinen Freunden sagen, weil die mich sonst für verrückt halten. Aber seit ich weiß, dass ich zur Samenbank der Genies gehöre ... bin ich auf einmal jemand. Ich habe einen genialen Vater, und wie's aussieht, ist mein Leben wichtig für die Wissenschaft und diesen Kram. Plötzlich hat alles irgendwie einen Sinn.“

Andy musterte ihn nachdenklich. „Ich gebe dir am besten erst mal die Unterlagen zu deinem Vater.“ Er verschwand in einem Nebenzimmer und kam mit einer Akte wieder. „Dr. Ian Doble, oder auch bekannt unter dem Decknamen Donor James.“

Ian, dachte Francis. Sein Vater hieß Ian!

Er stand kurz auf, setzte sich aber sofort wieder hin. Unzählige Gedanken stürzten auf ihn ein, er wollte schreien, rennen, lachen. Stattdessen blieb er ruhig.

Andy las aus der Akte vor. „Hier der offizielle Teil, der dir bekannt sein dürfte: Donor James machte seinen Doktortitel in Harvard, er hat einen IQ von i/o, ist sportlich und ein überzeugter Nichtraucher, spielt Cello und Lacrosse.“

Francis starrte auf die Unterlagen, bis Andy es bemerkte und sie ihm in die Hand drückte. Es waren wenige Seiten, sie enthielten medizinische Angaben zum Sperma sowie Informationen über Ian Doble und seine Mutter. „Unseren Klienten gaben wir natürlich nur kurze Charakterisierungen der Spender, hier alles Weitere, was wir über Doble angelegt haben.“

Francis betrachtete das Foto seines Vaters und spürte, wie sich ein kribbelndes, warmes Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. Zum ersten Mal sah er ihn!

Sein Vater war sehr gutaussehend, wie er fand. Ein bisschen wie Paul Newman in Die Katze auf dem heißen Blechdach, und er begriff, wieso seiner Mutter dieser Mann gefallen hatte. Doble trug einen Anzug, seine Augen leuchteten verschmitzt, und er hatte exakt das gleiche markante Kinn mit dem Grübchen wie sein Sohn. Dr. Ian Doble, las Francis, und vielleicht konnte er es erst jetzt richtig glauben. Unter dem Foto stand, dass sein Vater eine Koryphäe auf dem Gebiet der Neurochemie sei.

„Ein Neurochemiker“, sagte Francis kopfschüttelnd, aber fasziniert. Es klang wie aus einer anderen Welt.

Er las weiter in der Biographie dieses ihm bis vor zwei Wochen völlig unbekannten Mannes, der auf einmal zur wichtigsten Person in seinem Leben geworden war: 1,89 m, athletisch, Abschluss in Harvard, Doktorarbeit summa cum laude, ein exzellenter Forscher. Sehr wohlhabend. Sein gegenwärtiger Aufenthaltsort Santa Monica war jedoch durchgestrichen worden. Francis grinste wie verrückt, er versuchte es abzustellen, aber es ging nicht. Er war einfach so verdammt, verdammt glücklich, einen Vater wie ihn zu haben. Zum ersten Mal war er der Sohn von jemand, auf den man stolz sein konnte. „Scheiße, mein Dad ist ja der absolute Superheld“, rutschte es ihm heraus. Bis vor kurzem hatte er befürchtet, von einem Versager oder Kriminellen gezeugt worden zu sein, stattdessen hatte er nun offenbar den besten aller Väter. Er fühlte sich phantastisch.

Andy deutete auf die Akte. „Ian Doble war damals einer unserer fleißigsten Spender. Insgesamt sieben Frauen haben sich für ihn entschieden.“

Francis fühlte sich noch immer phantastisch, bis er begriff. Auf einen Schlag hatte er sechs weitere Geschwister.

 

Andy bemerkte seinen Fehler und schüttelte den Kopf. „Die Namen deiner Geschwister und alles, was dazugehört, kriegst du von mir nicht. Bei deinem Vater kann ich dir helfen, aber das ...“

„Schon okay, ich kenne ja nicht mal meinen Dad, sie stammen also von einem Teil meiner Familie, der mir nichts sagt. Und ich will sie eh nicht sehen.“ Vielleicht würde er diese Sätze später mal bereuen, im Moment war Francis jedoch nur an seinem Vater interessiert.

„Und selbst wenn ich wollte“, sagte Andy daraufhin, „ich könnte dir die Namen deiner Geschwister nicht sagen. Niemand kann das mehr. Monroe hat alle Unterlagen verbrennen lassen. Das hier“, er deutete auf die schmale Mappe über Mr. Doble und Ms. Dean, „habe ich nur, weil ich es damals für deine Mutter aus Monroes Aktenschrank gestohlen habe. Ich habe es all die Jahre nie weggeworfen. Aus verschiedenen Gründen. Aber, wenn ich ehrlich bin, vor allem, weil ich die Seite über deine Mutter so gern gelesen habe.“

Als er das hörte, legte Francis die Unterlagen zu Ian Doble beiseite und sah sich die Angaben zu Katherine Angela Dean an. Es hieß, dass sie hervorragend für das Projekt geeignet sei und ein Stipendium der Samenbank der Genies erhalten werde. Ihr iq lag über dem Durchschnitt, sie hatte auch in allen weiteren Tests blendend abgeschnitten. Bei „Beruf“ stand: Jurastudentin sowie ein Vermerk über ihr Cheerleading bei den Lakers. Als Hobbys waren Lesen, Musikhören und Tanzen notiert. Auf dem Bild war sie zweiundzwanzig und das schönste Mädchen der Welt. Francis kam wieder der Lieblingssong seiner Mutter in den Sinn:

 

When I was young.

My faith was so much stronger then.

I believed in fellow men.

And I was so much older then.

When I was young.

 

Er wusste nicht, was seiner Mutter in ihrer Kindheit widerfahren war, ob sie missbraucht, geschlagen und gedemütigt worden war, wie fast alle in dieser kranken Scheißwelt. Er wusste nur, dass sie es irgendwann nicht mehr ausgehalten hatte und als Teenager von zu Hause abgehauen war. Zeit ihres Lebens hatte sie vorgehabt, alles besser zu machen. Sie hatte ein kleines Genie als Kind haben und sich mit ihm etwas „Neues“ aufbauen wollen. Genau so hatte sie es gesagt. Sie war von diesem „Neuen“ immer so fasziniert gewesen, als wäre es das Geheimnisvollste, Aufregendste, was es gab.

Francis betrachtete lange das Foto seiner Mutter, und auf einmal bekam er eine Riesenwut, dass das Leben einen Menschen so zugrunde richten konnte. Dass es aus dem strahlenden Mädchen auf dem Foto die Frau aus dem Trailer machen konnte, die sich vermutlich noch immer nach dem „Neuen“ sehnte, während die Vergangenheit sie längst eingeholt hatte.

 

7

 

Francis legte das Blatt über seine Mutter beiseite. „Was geschah eigentlich mit dem Sperma nach dem Ende der Samenbank?“, fragte er. „Ich meine, ich hatte ja noch unzählige potentielle Geschwister.“

„Sie wurden alle entsorgt.“

Francis richtete sich auf. „Was? Einfach so?“

„Das Experiment schlug fehl, wie du weißt. Die meisten Geniekinder waren zwar leicht überdurchschnittlich begabt, aber so genial wie Alistair Haley war sonst keiner. Von einer genetischen Elite konnte keine Rede sein. Warren P. Monroe verlor zusehends die Geduld. Er verbrannte nicht nur die Unterlagen, nach seinem Tod wurde auch seine Samenbank geschlossen. Denn da war noch etwas ...“

Francis sah Andy fragend an.

„Dass die Kinder nicht Monroes Erwartungen entsprachen, war nicht allein der Grund für die Schließung“, sagte dieser, „Es gab auch einen Skandal, als einer unserer Spender der Presse bekannt wurde und herauskam, dass er ein überzeugter Rassist war. Dazu kam der Wirbel um Dr. von Waldenfels, den Eugeniker der Samenbank. Es gab Gerüchte, er habe als junger Arzt für die Nazis gearbeitet, als man während des Zweiten Weltkriegs medizinische Versuche an deportierten Kindern durchführte. Waldenfels hat seine Mitarbeit immer bestritten, und es konnte ihm auch nie etwas nachgewiesen werden. Als er sich dann allerdings vierzig Jahre später in den usa der Menschenzucht widmete, sorgte das für viel Kritik. Nach Monroes Tod fand sich schließlich niemand mehr, der die Samenbank finanzieren oder übernehmen wollte, und sie wurde geschlossen.“

Francis dröhnte der Kopf. Einerseits blickte er immer wieder auf das Bild seines Vaters und spürte diese unglaubliche Vorfreude, andererseits musste er an die Kinder denken, mit denen man Versuche gemacht hatte. Als Andy ihm die Hand auf die Schulter legte, war er froh darüber. Er dachte daran, wie er noch vor kurzem nichtsahnend mit seinen Freunden in der Schulcafeteria gesessen hatte, es schien Jahre her zu sein.

„Aus heutiger Sicht wirkt die Samenbank der Genies antiquiert“, sagte Andy schließlich. „In der synthetischen Biologie stellt man bereits künstlich Gene her, es kann gut sein, dass man eines Tages Menschen komplett im Labor züchten kann ...“ Er sprach über Präimplantationsdiagnostik und optimierte Kinder und begann darüber zu philosophieren, ob ein im Labor gezüchteter, synthetischer Mensch eine Seele hätte und wie die anderen Menschen denken, fühlen und träumen würde oder doch etwas ganz Eigenes wäre.

Francis versuchte zuzuhören, doch seine Gedanken schweiften immer wieder ab. „Was hat denn die Samenbank der Genies überhaupt gebracht?“, fragte er.

„Schwierig zu sagen. Denn natürlich war auch das Erbgut der Mutter ein erheblicher Faktor, und das wurde damals kaum beachtet. Am ehesten brachte das Experiment noch die Erkenntnis, dass die genetische Herkunft nicht alles ist. Zwar hatten wir in unserer Spenderkartei später auch brillante Musiker und Sportler, deren Kinder dann im musischen und athletischen Bereich ebenfalls sehr begabt waren. Und man geht auch in Kreisen der Wissenschaft davon aus, dass Intelligenz tatsächlich vererbbar ist. Aber das ist eben nicht alles, wie bei einem in die Erde gepflanzten Samen. Die Erziehung, die Familie und die Umwelt, in der ein junger Mensch aufwächst, spielen genauso eine Rolle, sie sind der Dünger. Sonst wären ja alle Kinder so genial geworden wie Alistair Haley.“

„Er arbeitet als Geschäftsführer in einem Restaurant“, warf Francis ein.

„Ich weiß. Ich mochte ihn sehr. Alle dachten damals, er würde die Mathematik revolutionieren, jetzt sorgt er dafür, dass Gäste ihren Tofuburger kriegen.“

„Aber warum?“

„Seine Intelligenz hat ihn nie glücklich gemacht, er konnte mit den Erwartungen nicht umgehen. Für ihn war es ein bedauernswerter Zufall, dass von allen Kindern ausgerechnet er so begabt war.“ Andy lehnte sich zurück.